Innenansichten |
Aufgeschnitten – geröntgt – abgerollt – aufgeklappt – explodiertBeschrieben werden hier Techniken zum Visualisieren von Objekten, die zwar optisch repräsentierbar, aber dem menschlichen Auge teilweise unzugänglich sind. Die Technik ermöglicht aber auch weitere Ein-sichten. |
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QuerschnitteGeologie Athanasius Kircher (1602–1680) hat in seinem »Mundus Subterraneus« (Amstelodami: apud Ioannem Ianssonium & Elizeum Weyerstraten 1664 > http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-14326) hypothetische Erdquerschnitte entworfen. Der Hamburger Journalist Eberhard Werner Happel (1647–1690) greift das auf:
Technik • Im Bergbau (Montanindustrie) faszinierten aufgeschnittene Berge seit dem 16. Jh. (vgl. unten zu Agricola).
• Bei Konstruktionsanweisungen im Maschinenbau sind Querschnitte wichtig:
Anatomie
Grandville hat dies karikiert. (Wahrscheinlich spukt auch die ›Phrenologie‹ mit hinein, vgl. das Buch von Franz Joseph Gall / Johann Caspar Spurzheim, Anatomie et physiologie du système nerveux en général, et du cerveau en particulier, […] , Paris: F. Schoell 1810–1819.)
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Teilweises AufschneidenDas Interessante an technischen Geräten oder Lebewesen oder geologischen Formationen usw. ist der Sicht von außen meist verborgen; das Ineinandergreifen der Teile des Mechanismus bzw. der Organe usw. muss durch geeignete graphische Mittel dargestellt werden. ••• Die Technik besteht darin, das Objekt zwar in seinem äußeren Habitus darzustellen, gleichzeitig aber die weniger interessierenden Oberflächenstrukturen teilweise wegzuschneiden, damit sich ein Blick ins Innere öffnet. • Erstes Beispiel Auf ihrer Erkundungsreise umb Nordwegen [sic]/ Moscaw und Tartarey/ mit Vorhaben/ einen Weg nach Cathay und China zusuchen erkennen Jan Huygen van Linschoten und Willem Barents und ihre Reisegenossen im September 1596 in Noua Zembla, dass sie ihr Schiff nicht aus dem Eis befreien können, und beschließen, aus Treibholz eine Hütte zu bauen, um sich vor der Kälte und wilden Tieren (Eisbären) zu schützen. Es ist dies die erste arktische Überwinterung. – 1871 findet ein norwegischer Kapitän die unversehrte Hütte und darin das Tagebuch des Schiffszimmermanns Gerrits de Veer.
• Zweites Beispiel Johann Michael Moscherosch (1601–1669) beschreibt in der Vision vom »Schergen-Teuffel« einen Exorzismus. Der Kupferstich zeigt die in einer Kirche stattfindende Szene; die Kirche ist für uns Leser/Zuschauer geöffnet, seltsamerweise so realistisch, dass es aussieht, als sei hier ein Stück Wand samt Dach herausgebrochen:
• Drittes Beispiel
• Viertes Beispiel
••• Das teilweise Öffnen kann auch mit der Technik des Querschnitts kombiniert sein:
Otto Lilienthal (1848–1896) integriert Querschnitte in die naturalistische Zeichnung eines Vogelflügels; er fügt das entsprechende Profil an der Stelle ein, wo es vorkommt. Der Flügel ist in Zentral-Perspektive gezeichnet; die Profile in Orthogonalprojektion:
••• Das Bild des bedeutenden Wissenschafts-Popularisators Louis Figuier zeigt den von Prosper Antoine Payerne (1806–1886) entwickelten Hydrostat – eine moderne Taucherglocke – nicht einfach nur aufgeschnitten, sondern zeichnerisch liebevoll situiert in dem Ambiente, wo das Gerät eingesetzt wird:
••• Die Entfernung der äußeren, auch die Konstruktion tragenden Teile kann sehr weit gehen, damit die Funktionsweise gut ersichtlich ist. Beim Seidenwebstuhl wird hier auf den Mechanismus focussiert, wie ein ›Fach‹ geöffnet wird, d.h. die Vorrichtung, mit der abwechselnd ein Teil der Kettfäden angehoben, ein anderer abgesenkt wird, damit der Schussfaden hindurchgeführt werden kann:
Die Visualisierung wird unter Weglassung aller stützenden Strukturen auf die für das Weben relevanten Teile konzentriert: den Kettbaum – die Kettfäden – die Teilstäbe – den Warenbaum; die ein Fach bildenden Litzenfäden mit den Litzenaugen – die über Seilzüge die beiden Fächer öffnende Hand. Die Schütze mit dem Schussfaden ist weggelassen. Die Leistung des Graphikers der »Encyclopédie« ermisst man im Vergleich mit derjenigen im ca. 80 Jahre älteren Werk. Das technische Gerät ist nicht wesentlich anders, aber die Darstellung verstellt den Blick:
••• Hier ein etwas ausführlicher beschriebenes Beispiel aus dem Bergbaubuch von Georg Agricola (1556). Gezeigt wird ein Hebewerk für Aushub oder Wasser (Im Fachjargon: eine ›Kunst‹). Der Holzschnitt könnte von Hans Rudolf Manuel Deutsch (1525–1571; Sohn von Niklaus Manuel Deutsch) stammen. Das Bild zeigt das Bergwerk halb aufgeschnitten über drei Geschoße: überirdisch den Pferdegöpel – im ersten Untergeschoß: die horizontale Welle mit der Bremsmechanik – im zweiten Untergeschoß den Bergmann (operarius), der den Bremsschuh bedient. Nur das Nötigste ist im Bild gezeigt (von der vertikalen Welle links bis zum Schacht rechts). Interessant ist, dass der Zeichner das Pferd durch den Rahmen anschneidet; damit scheint es sich zu bewegen. Der Text ist (im lat. Original wie auch in der frühneuhochdt. Übersetzung) nur schwer verständlich. Der Übersetzer ist Philipp Bechius [Bächi] 1521–1560. Agricola und Bechius haben diese Sprache der Technik neu entwickeln müssen. In der Antike wurden nicht derart komplexe Maschinen beschrieben, so dass sich Agricola hier hätte bedienen können.
Dazu eine textnahe Paraphrase. Dafür wurde auch der ursprüngliche lat. Text »De re metallica« 1556 p. 123sqq. beigezogen. Die roß kunst mit der Premscheibe. Sie wird durch Pferde angetrieben. Sie hat eine stehende Achse (auffrechte spille [ganz links im Bild, ohne Verweisbuchstaben]), die in in die Erde hineinführt und an der unten ein Kammrad (tympanum dentatum / kamprad [A]) befestigt ist, sowie eine liegende Achse [B], auf der der Ritzel (fürgelege [C] = englisch pinion) sitzt. An dieser Achse sind zwei Räder angebracht: das eine [D] ist aus Scheiben gemacht, an welche (tigna / pfulbeum; < Pfühlbaum = Balken) anliegen; das andre beim Getriebe (korb [E]) ist aus Quersprossen (ex fusis / kerbhöltzer) gemacht, damit werden die Göpelseile angetrieben. [...]. Daran [D] legt man einen Haken an einer Kette (harpago / sturtzhacke [H]), so dass es den Göpel anhält, wenn es notwendig ist. [Dies ist der Fall, wenn einer der ledernen Säcke entleert werden muss.] Es ist ein Haken mit Kette am Ende des Pfühlbaums [das ist wohl der Bremsklotz bei H] angebracht. [Dann wird die Umlenkmechanik bei G umständlich beschrieben. Zuletzt der Schemel (schemell) unten, auf den sich der Bremser setzt, wenn er den Göpel anhalten will.] Der Arbeiter verhindert mit einem Brett [er hält es in der rechten Hand], dass sich die Bremse löst. Auf diese Weise wird der Bremsklotz angehoben und an die Bremsscheibe gedrückt, dass oft aus ihm kleine Funken springen. Spezialliteratur: Georg Agricola, Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen, in denen die Ämter, Instrumente, Maschinen und alle Dinge, die zum Berg- und Hüttenwesen gehören, nicht nur aufs deutlichste beschrieben, sondern auch durch Abbildungen, die am gehörigen Ort eingefügt sind, unter Angabe der lateinischen und deutschen Bezeichnungen aufs klarste vor Augen gestellt werden. [aus dem lat. Text von 1556 übers. und bearb. von Carl Schiffner] München 1994 (dtv 2328). Georgius Agricola, De re metallica. Translated from the 1st Latin ed. of 1556, with biographical introduction, annotations and appendices upon the development of mining methods, metallurgical processes, geology, mineralogy & mining law from the earliest times to the 16th century by Herbert C. Hoover and Lou Henry Hoover. London: The Mining Magazine, 1912. http://www.biodiversitylibrary.org/item/73704#page/5/mode/1up. Olessia Schreiber, Der frühneuhochdeutsche bergmännische Wortschatz. Studien zu Georgius Agricolas „Vom Bergkwerck XII Bücher“, Dissertation TU Dresden 2005. (ist online) ••• Viele Innenansichten von Mühlen zeigt Georg Andreas Bäckler (1617–1687)
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Transparent machenDas Innere des Körpers ist für das normale Sehvermögen verborgen. Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923) hat 1895 entdeckt, dass man mit elektromagnetischen Strahlen, die von einer punktförmigen Quelle aus durch den Körper auf eine Photoplatte gelangen, innere Organe ohne chirurgischen Eingriff sichtbar machen kann.
Insofern es sich bei den sog. bildgebenden Verfahren in der Medizin um mechanische Techniken der Visualisierung handelt, verfolgen wir das Thema nicht weiter. Hingewiesen sei auf die für Laien verständlich abgefasste Publikation: Gustav K. von Schulthess: Röntgen, Computertomografie & Co. Wie funktioniert medizinische Bildgebung? Heidelberg / Berlin: Springer 2016 (Neujahrsblatt der Gelehrten Gesellschaft in Zürich auf das Jahr 2017). Diese Visualisierungsmethode gibt es auch realisiert ohne X-Rays, sondern mit der zeichnerischen Begabung eines Illustrators. Im Gegensatz zur Methode des Aufschneidens hat sie den Vorteil, dass die äußere Form als ganze unbeschädigt dargestellt wird, wodurch der Eindruck eines funktionstüchtigen (bzw. für Lebewesen lebendigen) Objekts entsteht.
Das folgende Bild sieht auch aus wie ein geröntgter Hirsch. Falsch. Die Bildlegende sagt: Der Riesenhirsch aus der Quartärzeit mit den Umrissen der mutmaßlichen äußeren Form des Tieres. Es handelt sich mithin um die Rekonstruktion der äußeren Gestalt anhand der gefundenen fossilen Knochen.
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AbrollenBei dreidimensionalen Objekten ist nur ein bestimmter Teil der Oberfläche sichtbar. Will man den ganzen Gegenstand in der Ebene des Printmediums sichtbar machen, kann man ihn abrollen. Die Goldhörner von Gallehus waren zwei Blas- oder Trinkhörner, die 1639 bzw. 1734 in Gallehus/Tondern im Süden Dänemarks gefunden wurden. Sie sind auf die Zeit um 400 n. Chr. datiert. Die Hörner bestanden jeweils aus einem inneren, stabilisierenden Goldhorn als Grundkörper, über welchen einzelne Goldreifen mit gepunzten Menschen-, Tier- und Sternmotiven gezogen waren. Auf dem zweiten, später aufgefundenen Horn befand sich eine zusätzliche frühe Runeninschrift. (Dies ist jedoch nur noch von den frühen Kupferstichen und Beschreibungen eruierbar, da die Hörner im Jahre 1802 von dem Goldschmied Niels Heidenreich aus der Kunstkammer in Kopenhagen gestohlen und eingeschmolzen worden sind.) Das 1639 entdeckte, längere Horn wurde von Olaus Wormius in einer Abhandlung mit dem Titel »De aureo cornu« (1641) abgebildet und beschrieben. Für den Kupferstich bediente er sich dabei der Technik der Abrollung, um die gesamte Figurendarstellung ersichtlich zu machen. Da es sich um einen zylinderförmigen Gegenstand handelt, stellen sich dabei – ebenso wie bei den kegelförmigen griechischen Vasen – kaum Probleme (der Stich von Worm weist jedoch mehrere inhaltliche Fehler auf). Hier die Kopie bei Happel (1685):
In der klassischen Archäologie ist diese Abbildungstechnik zum Standard geworden:
Literaturhinweise: http://de.wikipedia.org/wiki/Goldhörner_von_Gallehus Eric Graf Oxenstierna, Die Goldhörner von Gallehus. Mit Zeichnungen von Borghild Kamph-Weiss, Lindingö: Selbstverlag 1956. Hartner, Willy (1969), Die Goldhörner von Gallehus. Die Inschriften, die ikonographischen und literarischen Beziehungen, das Entstehungsdatum, Wiesbaden: Steiner 1969. Anmerkung: Schwierigkeiten gibt es bei der Abbildung von Kugeln, da eine Kugeloberfläche sich nicht auf eine Ebene abrollen lässt. So kann keine Karte der Erde zugleich längentreu (›äquidistant‹), flächentreu (›äquivalent‹) und winkeltreu (›konform‹) sein, weswegen eine vollkommen verzerrungsfreie Darstellung der Erdkugel unmöglich ist. |
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AufklappenIm Jahre 1538 erschien eine neue Art von Flugblättern, deren Bildmotive mehrlagig, d. h. aus übereinander geklebten, aufklappbaren Papierstreifen in unterschiedlicher Größe, konstruiert waren. Diese ersten anatomischen Klappbilder (engl. ›anatomical fugitive sheets‹) bildeten den Körper einer Frau ab – Anothomia oder abconterfectung eines Weybs leyb / wie er innwendig gestaltet ist – deren vordere Wand des Rumpfes sich nach oben aufklappen ließ. Danach konnten Betrachter durch weiteres Hochklappen schichtweise die einzelnen Organe freilegen und weiter in das Innere des Körpers vordringen. Kurze Texte auf beiden Seiten der Figur dienten der Erklärung, einige der Bilder waren zudem farbig gestaltet. Der Ursprung dieser Klappbilder liegt in den anatomischen Holzschnitten des Spätmittelalters, wie sie unter anderem in Johannes de Kethams »Fasciculus medicinae« (1491) zu finden sind. Die Erfindung Heinrich Vogtherrs aber ermöglichte es erst, ein Objekt bis zu einem gewissen Grade in seiner Dreidimensionalität darzustellen. Kurz darauf, im Jahre 1539, veröffentlichte Vogtherr eine männliche Version, welche in Titel und Konstruktion eindeutig auf der weiblichen Darstellung basierte. Abgesehen von den geschlechtsspezifischen Veränderungen wurde der Rahmentext um acht Abbildungen von Organen ergänzt. Eine nur basale Terminologie mit wenigen lateinischen Begriffen, der trotz wissenschaftlichem Anschein einfache Begleittext – mit Verweisen auf die Viersäftelehre – und die vorvesalische Anatomie der Figuren verweisen darauf, dass als Zielgruppe kein akademisches, sondern ein breites, anatomisch ungebildetes Publikum angesprochen werden sollte.
Der kommerzielle Erfolg war gewaltig, eine Vielzahl an Auflagen und Nachahmungen erschien. So verwendete auch der Mediziner Georg Bartisch (1535–1607) die Technik der Klappbilder in seinem Buch über Augenheilkunde, »Ophthalmodouleia « (1583), welches 91 ganzseitige Holzschnitte enthält und das erste ophthalmische Werk in deutscher Sprache darstellt. In den ersten Kapiteln – den Abbildungen sämtlicher Augenkrankheiten, Operations- und Untersuchungsinstrumente, Heilverfahren und Behandlungsszenen vorausgehend – widmet sich Bartisch der Anatomie des Kopfes und des Auges anhand von anatomischen (zum Teil recht fragilen) Klappbildern. Um die Verortung der Augen im Schädel sowie deren Aufbau nachvollziehen zu können, kann sich der Betrachter Lage um Lage vorarbeiten, von den Haaren bis zu den Augen bzw. von den Augenmuskeln bis zur Pupille.
Noch 1932 war die Technik aktuell:
Eine Variante von Klappbildern, bei welcher Bilder ebenfalls mit einer weiteren Bild- bzw. Realitätsebene überlagert werden, die untere Ebene jedoch durchscheint, findet sich erst in neuerer Zeit. In neueren Ausgaben der Encyclopædia Britannica und in der Brockhaus Enzyklopädie wurde bei anatomischen Tafeln der Klappmechanismus durch bedruckte durchscheinende Kunststofffolien und somit das Aufklappen durch ein Umblättern ersetzt.
Die Technik gibt es auch dreidimensional. Berühmt ist die Sammlung im Museum La Specula in Florenz: ›Collezione delle Cere Anatomiche‹).
Das schrittweise Eindringen in einen Körper, d.h. das Offenlegen von Nichtsichtbarem, kommt bereits in der Frühmoderne auch in nichtphysiologischen Darstellungen vor. Der Ingenieur, Kartograph und Militärschriftsteller Wilhelm Dilich (1571–1655) brachte in seiner »Krieges-Schule« das Verfahren für die Darstellungen von Gebäuden zur Anwendung, so dass beispielsweise der komplexe Aufbau einer Festung nach und nach auf drei verschiedenen Ebenen erfasst werden konnte.
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ExplosionsbildEin komplexes System wird in seine Einzelteile ›zerlegt‹ so abgebildet, dass die Abstände zwischen diesen unter Beibehaltung der relativen Lage vergrößert werden. Dabei geht freilich der Gesamteindruck des Objekts verloren.
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Weitere Ein-sichten aufgrund solcher TechnikenTatsachen betreffend ••• Eine andere Leistung als das Aufzeigen einer Innenansicht erbringt das Zuklappbild, das den Bergsturz von Plurs zeigt. Hier wird ein zeitlicher Ablauf visualisiert. Der Bergsturz der im Bergell liegenden Stadt Plurs im September 1618, bei welchem der größte Teil des Ortes verschüttet wurde, wurde in Flugblättern mehrmals dargestellt. Auf dem Blatt von Scheuchzer wird das Ereignis durch ein Klappbild wiedergegeben. Das aufgeklappte Bild zeigt dabei den Zustand vor der Katastrophe, das zugeklappte Bild die Situation danach, und es verdeutlicht so drastisch das Ausmaß des Unglücks:
Spezialliteratur zu Plurs: Helmut Presser, Vom Berge verschlungen in Büchern verwahrt. Plurs, ein Pompeji des 17. Jahrhunderts im Bergell, 1957; 2. Auflage Bern: H.Lang. Jörn Münkner, Sensationeller Abgang. Eine Bergsturz-Inszenierung im Theatrum Europaeum und in Flugblättern; in Nikola Roßbach / Flemming Schock / Constanze Baum / Désirée Müller: Das Theatrum Europaeum. Wissensarchitektur einer Jahrhundertchronik. Wolfenbüttel 2012. (Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit) > http://diglib.hab.de/ebooks/ed000081/start.htm Susanne Reichlin, Plötzlicher Untergang. Der Bergsturz von Plurs 1618 in: Naturkatastrophen. Deutungsmuster vom Altertum bis in die Neuzeit, hg. Andreas Höfele / Beate Kellner, Brill 2022, S.267–297. ••• In seinem Buch über die Möglichkeiten intelligenter Geländeabbildungen zeigt Eduard Imhof, dass man durch hintereinander gestellte Querprofile (d.h. Schnitte) die tatsächliche Steilheit der Wände, die Schlankheit eines Berges viel besser erkennen kann als duch eine Ansicht, wie sie dem unbewaffneten Auge sich darbietet:
••• Ein ähnliches Anliegen mag Albrecht Dürer (1471–1528) mit seiner seltsamen Zeichnung gehabt haben. In seinen Studien zur menschlichen Proportion stellt er Querschnitte durch den Leib dar – nit vnnütz den Bildhawern die da anfahen zu lernen die da auß holtz oder stein etwas machen wöllen auff das sie einem ding recht vnd genaw nach mögen kumen. Er gibt neun Schnittbilder (plus die Fußsohlen).
Moralisch ••• Ein populäres Flugblatt aus der 2.Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt in unaufgeklapptem Zustand ein Paar in prächtigen Gewändern; aufgeklappt erscheinen die Leiber unterhalb des Gürtels als Skelette. Der Text dazu:
Den Verblüffungs-Effekt ermisst man, wenn man ein nicht-aufklappbares Bild dagegen hält, wo die modisch aufgeputzten Lebenden und die Skelette einfach nebeneinander gestellt sind:
Politisch ••• Die Klappbildtechnik wurde auch verwendet, um auf verborgene Geisteshaltungen aufmerksam zu machen. Ein antikatholisches Flugblatt um 1631/32, welches einen Holzschnitt aus der Reformation zur Vorlage hatte, bildet einen Jesuiten und einen Dominikaner ab. Klappt man allerdings die Blätter über den Köpfen der Figuren nach oben, so kommt unter dem Jesuiten ein Hundekopf, unter dem Dominikaner ein Wolfskopf mit einem Lamm im Maul zum Vorschein. Das Aufdecken lässt einen folglich auf das echte Wesen blicken, welches – wie der beigefügte Text unterstreicht – durch fromme Heuchelei sonst verborgen bliebe. ••• Louis-Philippe Ier soll am 31. Juli 1830, nachdem er als Lieutenant-général du Royaume an die Macht gekommen war, zu Marquis de Lafayette, der ihn bei der Thronbesteigung unterstützt hatte, gesagt haben: »La charte sera désormais une vérité!« – Die Verfassung wird von jetzt ab eingehalten werden. Aber bereits im ersten Jahr der Regierung des ›Roi bourgeois‹ erfolgten 45 Prozesse gegen die Verleger der satirischen Zeitschriften »Charivari« und »La Caricature«. Der Karikaturist verändert die Worte in »Le cachot [der Kerker] sera désormais une vérité!«. Wenn man die Türe aufklappt, sieht man die Wahrheit angekettet im Kerker.
••• Hier ein Flugblatt aus dem Jahre 1632, auf dem die Jesuiten (links: unter dem menschlichen Kopf ein Hund) und Dominikaner (recht: unter dem Haupt ein Wolf, der ein Schaf packt):
Religiöse Ikonographie ••• Maria, der der Engel offenbart hat, dass sie mit dem Heiland schwanger ist, besucht Elisabeth, der in hohem Alter der Engel verkündet hatte, dass sie Johannes [den Täufer] gebären werde. Lukasevangelium 1,39ff. (Luther 1545):
In Darstellungen dieser Begegnung (Visitatio, Heimsuchung) werden die beiden ungeborenen Kinder im Mutterleib gerne dargestellt, so hier im Wonnentaler Graduale der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe > http://digital.blb-karlsruhe.de/content/zoom/208648: |
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Literatur zu Aufklappbildern allgemein:Jörn Münkner, Eingreifen und Begreifen. Handhabungen und Visualisierungen in Flugblättern der Frühen Neuzeit, Berlin: Schmidt 2008 (Philologische Studien und Quellen 214); S. 88–137. Michael Stoll (Prof. an der Fakultät für Gestaltung der Hochschule Augsburg) hat am Kolloquium der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung am 20. September 2014 vorgetragen: »Das Prinzip des ›progressive disclosure‹ in der Wissensvermittlung am Beispiel von Modell-Atlanten, Aufklapp-Büchern und Lehrmodellen«. Sein Handout hier auf Englisch im PDF-Format. David Ganz / Marius Rimmele (Hgg.), Klappeffekte. Faltbare Bildträger in der Vormoderne, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2016 (Bild+Bild, Band 4). Nachtrag: Von Susanne Pollack kuratierte Ausstellung in der Graphischen Sammlung der ETH Zürich 2019: "Durch Wände und Schichten. Querschnitte in Kunst und Wissenschaft" |
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Eingestellt vom 6. Okt. bis 22. Dez. 2016 von P.M.; mit Dank für die Hilfe an Johannes Depnering und für Hinweise an Romy G. |
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