Metaphorische Titel von Enzyklopädien


           
     


Büchertitel sagen oft viel darüber aus, wie das Buch gelesen / benutzt werden will.

Vgl. Paul Lehmann, Mittelalterliche Büchertitel, (= Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philos.-histor. Klasse 1948/4 und 1953/3).

 
           
    Acerra (Lauremberg)   Kunstvoll gefertigtes Kästchen mit durchbrochenem Deckel, in dem Räucherwerk verbrannt wird, damit dessen Duft den ganzen Raum durchströmt  
           
    Aerarium   Schatzkammer, Zeughaus  
           
    Aurifodina   Goldgrube. Man muss sich bergmännisch bemühen, an das edle Metall heranzukommen; und es gibt Abraumhalden.  
           
    Baum (z.B. Lull)   Aus einem Stamm wachsen Äste und aus diesen Zweige hervor; aus dem Zentrum ›verästelt‹ sich das Wissen in Details – die Vielheit ist auf eine auf Einheit zurückführbar.  
           
    Bibliotheca (Lohner, Coronelli)   Die Enzyklopädie ersetzt eine ganze Bibliothek.  
           
    Elucidarium, Lucidarium (Honorius Augustodunensis)   von elucidare: er-klären, deutlich machen  
           
    Hortus deliciarum (Herrad)   Lustgarten. Das Wissen wird präsentiert in einem Garten, in dem man herumspaziert und da und dort eine Blume pflückt oder eine Frucht abbricht.  
           
    Janua reserata (Comenius)   aufgeschlossenes Tor: Das Buch gibt an, die Arbeit des Ent-Schlüsselns vorgeleistet zu haben, damit der Leser nur noch hereinzuspazieren braucht.  
           
    Liber floridus (Lambert von St. Omer)   (vgl. Polyanthea)  
           
    Margarita (Reisch)   Perle: Das Wissen als besonders wertvoller Gegenstand  
           
    Piazza universale (Garzoni)   Ort, wo man Handels-Waren zum Verkauf ausstellt; Alle Waren stehen gleichzeitig zur Verfügung.  
           
    Polyanthea (Lange, Mirabelli, Spanner)   Blütenlese. Oft kommt der Topos vor, dass Autoren wie Bienen von Blume zu Blume fliegen und überall das beste, nämlich den Nektar, heraussaugen und zu Honig verarbeiten.  
           
    Promptuarium (Engelhus, Hondorff)   Vorratskammer. Das Wissen libgt bereit in einem Speicher, in dem man sich bedienen kann.  
           
    Quelle (Sydrac, Bandini)   Die Enzyklopädie als Ort, woher das lebensspendende Wissen kommt.  
           
    Rhizom (Deleuze / Guattari)   Metapher aus der Botanik: Wurzelwerk mit unterirdisch unsichtbar zusammenhängenden, endlose Verbindungen ohne Zentrum und spontaner Sprossbildung. Das Wissen dehnt sich spontan aus über Vielheiten von Dimensionen hinweg.  
           
    Ring (Wittenwiler)   Vielleicht wird darauf angespielt, dass eine Edelstein nur [in einem Ring] gefasst zur Geltung kommt - das wäre auf das Verhältnis von Lehre zu unterhaltsamem Rahmen zu beziehen. ›Enkyklopaedia‹ hat mit Kreissymbolik im Sinne des Umfassenden direkt nichts zu tun, eher ist gemeint: das was – im Kreis – immer wiederkehrt, ist das Gewöhnliche; oder: ein Amt, das herumgeht, können alle innehaben.  
           
    Speculum (Vinzenz von Beauvais, Radulfus Ardens, Bate)   Spiegel. Auch im kleinsten Teil eines Spiegels sieht man die ganze Welt. Spiegel wird auch als ›leuchtendes Vorbild‹ verstanden, nach dem man sein Benehmen ausrichtet. Oder das Buch ist ein Spiegel, den man sich vorhalten und seine Narrheit erkennen soll. In der Enzyklopaedie ist die ganze Welt wie in einem Hohlspiegel auf kleinstem Raum sichtbar. Herbert Grabes, Speculum, Mirror und Looking-Glass. Kontinuität und Originalität der Spiegelmetapher in den Buchtiteln des Mittelalters und der englischen Literatur des 13. bis 17. Jahrhunderts, Tübingen 1973. – Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels (Schriften zur Symbolforschung, Bd. 14), Zürich: Pano 2003.  
           
    Suda   Schanzwerk, Befestigungsanlage  
           
    Sylva, Silva (Bacon, Lauretus)   (nicht Wald in dem man sich verirrt, sondern): Ort, wo man Bau-Stoff oder Tierfutter herholt. Die Enzyklopädie liefert eine unerschöpfliche (nachwachsende) Fülle von Wissen.  
           
    surfen   Das Wissen wird vorgestellt als eine einzige bewegliche Masse ohne Zentrum, auf der man sich von Welle zu Welle frei bewegen lässt, die vom Surfer gewählte Informations-›Welle‹ trägt ihn weiter zur nächsten.  
           
    Theatrum (Beyerlinck, Hueber, Zwinger)   deutsch oft Schauplatz. Es ist nicht unbedingt an eine theatralische Zurschaustellung mit einem Spieltext und Szenenauftritten zu denken, sondern meint ›Ort, wo etwas vor Augen gestellt wird‹. Flemming Schock (u.a., Hgg.), Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen, metaphorik.de 14/2008 [www]. – Forschungsprojekt der HAB Wolfenbüttel: Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit [www]  
           
    Turnierplatz (Albertinus)   (vgl. Piazza)  
           
    Tresor (Brunetto Latini)   (vgl. Promptuarium)  
           
    Web, Netz   Fäden, die miteinander verknüpft sind und in Knoten zusammenkommen und wieder auseinanderlaufen, der Benutzer wird an den Knoten jeweils zu einer weiter- (oder weg-) führende Stelle verwiesen.  
           
   

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PMichel Dez 05, April 2010