J. Meyers Vorwort 1839

     
 

Joseph Meyer (1796 – 1856), aus dem Vorwort im 1. Band des »Großen Conversations-Lexicon« (›nullte‹ Auflage 1840; datiert: Hildburghausen 1839)

Jede Real-Encyclopädie ist nichts anderes, als eine Vorschule für den Universal-Unterricht, der unsere Kinder von der Tyrannei des Pedantismus befreien und den Vortheilen allgemeiner Bildung zuführen wird. Jede den Massen zugängliche und auf ihre Bedürfnisse berechnete Real-Encyclopädie […] muß, ihrer Natur nach, dazu beitragen, das drückende Monopol des Wissens, welches so lange zeit auf den Völkern gelastet, über den Haufen zu werfen; und indem sie durch die Mittheilung aller vorhandenen menschlichen Kenntnisse, welche positiven Werth haben, vielen Tausenden neue Mittel an die Hand gibt, sich ein besseres Loos zu bereiten, die öffentliche Wohlfahrt auf breitern, vernünftigern und dauernden Grundlagen befestigen.

Der Aristokratie des Wissens freilich ist eine populäre Encyklopädie ein Dorn im Auge, und sie wird auch unserm Beginnen nicht hold seyn. ›Intellectuelle Gleichheit‹ liest sie auf unserm Panier, und in jedem Kämpfer für jene gewahrt sie einen Feind, der an ihrem Throne rüttelt, und ihr das Benefiz des Privilegiums zu entziehen trachtet. – So wollen auch Diejenigen unsere Bestrebungen nicht, welche in der unermeßlichen Entwicklung der Volks-Intelligenz und in allgemeiner Bildung nur neue Keime zu Revolutionen erblicken. Sie mögen sich beruhigen. Wir schleudern keine Blitze, die blenden, oder tödten. Das Licht des Könnens und Wissens, welches wir verbreiten, wirkt wohlthätig auf Alle, denen es leuchtet, und sie selbst, die des hassen, nehmen an seinen Segnungen Theil. (Seite VI)

Zu keiner Zeit hat der Baum des Wissens zahlreichere und vollere Zweige getrieben, als jetzt. Vieles, was sonst als unentwickelte Knospe da war, hat sich mächtig entfaltet, hat Stamm und Aeste erhalten und sich mit Blüthen, Blättern und Früchten geschmückt, von denen bereits Samen in neuen Pflanzen aufgeht. Alle einzelnen Wissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten, an Umfang, wie an innerer Reichhaltigkeit, so unglaublich gewonnen, daß auch der Mann vom Fach, wenn er, wie billig, seine Hauptsorge auf lebendiges Durchdringen und Begreifen des Ganzen richtet, selbst mit dem stärksten Gedächtnisse nicht im Stande ist, jede wichtige Einzelnheit zu behalten und sich begierig nach einem Hülfsmittel umsieht, welches ihm auf jeden Wink die fehlenden Notizen darreiche. So erklärt sich die Entstehung so vieler encyclopädien […] (Seite VII)

Nicht vollständige Darstellungen der uns ferner liegenden Wissenschaften, nicht zusammenhängende Systeme brauchen und suche wir, sondern kurze, klare, bestimmte, leicht aufzufindende Nachweisungen […].

Die gebildete Welt der Gegenwart trägt einen andern Stempel, als die des vergangenen Jahrhunderts. War sonst neben Gewandtheit in der Unterhaltung, Feinheit im Umgange, Zartheit der gegenseitigen Berührung das Hauptmerkmal des Weltmannes, und das ausschließliche der gebildeten Dame; so wird jetzt die Bildung mehr nach dem Grade bestimmt, in welchem einer das wissenschaftliche, künstlerische, schöngeistige und politische Leben der Gegenwart in sich aufgenommen hat, und fähig ist, es zum Gegenstand der allgemeinen Conversation zu machen. […] Ein Vergleich der besten heutigen Cirkel mit denen, die noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Muster des geselligen Tones waren, führt den Beweis, daß die sonstige Bildung eine mehr moralische war, die jetzige hingegen vorzugsweise eine intellectuelle genannt zu werden verdient. Der Gebildete unserer Tage muß mit allen Haupterscheinungen der Philosophie, Theologie und Literatur, den riesenhaften Fortschritten in der Industrie, mit den Entdeckungen der Natur- und Völkerkunde, der Politik, dem großen Schatze der Geschichte und mit hundert anderen Dingen wohl bekannt, oder doch im Stande seyn, sich das Wissenswertheste in jedem Augenblick zu vergegenwärtigen, sonst versteht er nicht einmal die für ihn hauptsächlich berechneten Journale und Zeitungen. (Seite VIII)

Zu den Gelehrten vom Fach und dem Manne von allgemeiner Bildung gesellt sich der Praktiker, der dem Staate als Civil- und Militärbeamter dient, oder seinem eigenen Geschäfte als Handels- und Fabrikherr, als Oekonom oder Techniker vorsteht. Zu keiner Zeit haben Wissenschaften dem praktischen Leben so nahe gestanden, zu keiner Zeit waren sie ihm so unentbehrlich, als jetzt. Niemals forderte der Staatsdienst mannigfaltigere Kenntnisse über geschichtliche Zustände und Personen, über statistische Verhältnisse der Gegenwart und Vergangenheit; niemals wurde von einem tüchtigen Offizier eine umfassendere Bekanntschaft mit den Lehren der Mathematik, der Geographie, der Staaten- und Völkerkunde verlangt, niemals bedurfte der Kaufmann zu diesem Allen nothwendiger die ausgebreitesten Kenntnisse in allen Zweigen der Handelswissenschaft; und in den Geschäften des Technikers, des Oekonomen, des Fabrikherrn haben sich die eigentlichen Naturwissenschaften, Physik, Chemie und Naturgeschichte etc. ganz unentbehrlich gemacht. (Seite IX)

[Viel Raum nimmt die Auseinandersetzung mit den Konkurrenten Brockhaus, Ersch & Gruber, Pierer ein, in diesem Zusammenhang schriebt Meyer:] Es bleibt nun noch die Frage, wodurch unser Unternehmen den Beifall des Publikums erwerben wolle? […] Unser Lexicon soll das Mittel reichen, sich rasch und leicht die Resultate jener Kenntnisse einzuprägen, deren Mangel sich bei Hunderttausenden mit jedem Tage fühlbar macht. Gerade in dieser, einer der wichtigsten Beziehungen, hofft es eine Lücke auszufüllen, welche alle seine Vorgänger offen gelassen haben, die entweder jenen Disciplinen viel zu wenige Raum gönnten, oder sie, was bei den Meisten der Fall ist, in veralteten Artikeln besprachen, von denen die Unsrigen an Umfang, Gehalt und Form eben so abweichen werden, als der jetzige Standpunkt jener Wissenschaften den vor zwanzig Jahren überragt.

Hinsichtlich der Darstellungsweise ist unser Streben auf Einfachheit, Deutlichkeit und Popularität immer zuerst gerichtet. Zugleich suchen wir jeden Gegenstand in angemessener Sprache zu behandeln. (Seite XI)

Trete es [das Werk] denn in die Welt, weder mit dem Zopfe des Pedanten, noch in der Narrenkappe des Phanstasten, sondern in schlichtem Rocke eines anspruchlsoen, treuen, hausfreundlichen Lehrers für alle, welche sich selbst, oder den Ihrigen gründliche und nützliche Kenntnisse schnell, sicher und mit dem wenigsten Aufwande an Zeit und Geld zu verschaffen trachten; als ein zuverlässiger Rathgeber und bewanderter Führer zu jeder Stunde im unermeßlichen Reiche des Wissens und Könnens, als ein rüstiger Gegner endlich aller Bestrebungen, die dem Monopol des Wissens huldigen, und die es sich zur Aufgabe machen, unsern Brüdern Unfähigkeit und Ignoranz zu verbriefen. (Seite XII)

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