Bernardus Silvestris »De mundi universitate«

     
 

Bernardus Silvestris, (fl. 1145/52) »De mundi universitate«

Bei des Bernardus Silvestris »De mundi universitate« handelt es sich nicht um eine Enzyklopädie, in der man nachschlägt, um sich über etwas zu informieren, sondern um eine beinahe genüssliche Ausbreitung der soboles [Sprösslinge] der vielfachen Gestaltungen (Megacosmus, Prosa IV, Zeile1) in der Form einer allegorisch gestalteten Kosmologie. Die auftretenden Figuren sind von verschiedenem Status: teils personifizierte Prinzipien aus der neuplatonischen Philosophie (Noys = nous, Endelechia = die Weltseele), teils handelt es sich um Einkleidungen in Rollen aus der antiken Mythologie (Urania), einige sind Abstracta agentia (Theorica und Physica), teils sind es Hypostasierungen Gottes, wobei durchaus auch dieselbe Instanz verschieden benannt werden kann (Noys = providentia Dei = Minerva = die Weisheit); eher unklar ist der Status der Natura; schwankend zwischen Objekt und Figur ist die Silva = hyle.

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Zusammenfassung

Natura bittet Noys, die gestaltlose, wandelbare, aufnahmefreudige Silva (der ein Rest von malignitas innewohnt, was sich dann auch auf den Menschen auswirkt) zu formen. Noys holt die Einwilligung Gottes ein und scheidet die Elemente voneinander, aus denen der Mundus besteht (Megac., pr. II, Z. 94ff.). Noys regt sodann die Emanation der Weltseele Endelechia aus dem Ideenschoß Gottes an, deren Kraft – neuplatonisch gedacht – in den unteren Regionen entartet (degenerat).

Dann richtet die göttliche Hand die neun Engelschöre ein und heftet die Sternbilder ans Firmament, lässt die sieben Planeten sich bewegen und lässt die vier Winde wehen. Die (vierfüßigen) Tiere entstehen gemäß ihrem Lebensraum, Gebirge, Flüsse, Bäume, Früchte, Gewürze, Landschaften, Medizinalpflanzen, Fische, Vögel (metr. II). Die Beseelung des Kosmos erfolgt stufenweise absteigend (sic principia principiis sed a principe principio cohaeserunt, Megac. pr. IV, Z. 51) und doch auch zyklisch von Gattungen über Arten zu Individuen und wieder zurück. Die Welt ist ewig, ohne Riss zusammenhängend; was zu weiteren Expektorationen Anlass gibt.

Bei aller Vollkommenheit des Macrocosmus fehlt doch noch die Vollendung (consummatio); im zweiten Buch (»Microcosmus«) geht es um die Erschaffung des Menschen. Noys beauftragt Natura, Urania und Physis zu suchen, die dabei mitwirken sollen. Natura unternimmt eine Himmelsreise (mit Beschreibung astronomischer Details der diversen Schalen) und kehrt mit Urania zusammen zurück (Microc. pr. V), vorbei am überhellen dunkelgeborenen Lichtthron Gottes, vom Reineren zum Dichteren (de puro ad obstusum Z. 43) vorbei an antiken Planeten-Göttern – bei der Sonne erfolgt ein Exkurs über die vier Jahreszeiten, beim Mond werden die sublunarischen Sphären beschrieben und dabei auch die Natur gewisser Geister.

Die beiden Reisenden unterhalten sich über die Zusammensetzung (des Menschen) aus Fleisch und Geist (caro hebes, mens sagax metr. VIII, 29f.), bis sie Physis treffen, die an einem locus amœnus in Gesellschaft ihrer Geschwister Theorica und Practica wohnt (pr. IX). Sie macht Pläne des Menschen. Da erscheint Noys, der sie zur Erschaffung des Menschen anregt: göttlich und irdisch zugleich, mit aufrechtem Gang (metr. X, V. 29f.), zur Erkenntnis bestimmt. Urania ist zuständig für die aus der Endelechia stammende Seele; Physis für den aus den Elementen geschaffenen Leib; Natura für die der himmlischen Ordnung nachgebildeten Zusammenfügung der beiden (pr. XI). Hilfsmittel sind der Spiegel der Vorsehung (in dem die ewigen Ideen sichtbar sind), die Tafel des Schicksals (die die zeitlichen Wandlungen beschreibt, nach denen die Parzen handeln), die Tafel der Erinnerung (an das Herkommen aus bestimmten Ursprüngen).

Der Mensch wird sodann als Microcosmus hergestellt (metr. XII), wobei die alte Bösartigkeit der Silva nicht ganz auszumerzen ist (pr. XIII). Die Elemente machen die im Gegensatz zu den Tieren beim Menschen vielfältig zusammenwirkende Komplexion aus. Das Haupt enthält im Gehirn drei Gemächer (Phantasie, Gedächtnis und Vernunft, pr. XIII, Z. 121ff.). Der Mensch wird mit den fünf Sinnesempfindungen ausgestattet: (metr. XIV); dann werden Herz (V. 109ff.), Lunge, Leber, Venen, Milz, Galle geschaffen; zuletzt werden die Fortpflanzungsorgane genannt, die den Bestand der Menschheit sichern.

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Kommentar

Klammern wir einmal die Frage aus, wie sich eine neuplatonische Kosmogonie mit dem Genesisbericht verträgt – eine der Pointen des Texts ist gewiss, diese Gedanken miteinander kompatibel zu machen; er hat aber noch weitere: Einerseits hat man den Eindruck, es gehe Bernardus darum, sich in die Fülle dessen zu versenken, was durch die Formkraft der Noys aus der ungeschlachten Silva Gestalt angenommen hat – die Exkurse zu den jeweils geschaffenen Dingen holen oft enzyklopädisch weit aus (bei der Entstehung der Flüsse z. B. werden alle antiken genannt, aber auch die heimischen in Frankreich, Megac., metr. II, V. 233ff.; bei den Medizinalpflanzen wird deren Anwendung mitgenannt). Anderseits scheint die Allegorie dazu zu dienen, die disparate Vielfalt der Welt mittels eines literarischen Bandes zusammenzuhalten. Die literarische Form unterstützt hier den ideellen Universalitätsanspruch, der allein schon durch den kosmogonischen Ansatz gegeben ist. Sowohl die kosmische Entfaltung gemäß einem ontologisch durchwirkenden Konzept als auch die allegorische Einkleidung bringen eine Konsistenz und eine Dynamik in dieses System der Naturphilosophie.

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Literaturhinweise

Ausgabe

Bernardus Silvestris Cosmographia; ed. with introduction and notes by Peter Dronke, Leiden: E. J. Brill 1978, (Textus minores; Vol. 53).

(Kommentierte) Übersetzungen

Bernardus Silvestris, Cosmographie; introd., trad. et notes par Michel Lemoine, Paris: Cerf, 1998.

The cosmographia of Bernardus Silvestris; a transl. with introduction and notes by Winthrop Wetherbee, New York: Columbia University Press, 1973 (Records of civilization, sources and studies; no. 89).

Bernardus Silvestris, Über die allumfassende Einheit der Welt: Makrokosmos und Mikrokosmos; aus dem Latein des XII. Jahrhunderts übers. und eingeleitet von Wilhelm Rath, Stuttgart: Mellinger, [1972].

Forschungsliteratur:

Christine Ratkowitsch, Die Cosmographia des Bernardus Silvestris, (ORDO, Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 6). Köln u.a.: Böhlau 1995.

Mark Kauntze, Authority and Imitation: A Study of the Cosmographia of Bernard Silvestris, (Mittellateinische Studien und Texte 47), Leiden: Brill 2014.

 

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