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schematische Darstellung des Bildes Fol. 32r und
Präsentation der zugehörigen Texte:
In den Schriftbändern (Tituli) ist zu lesen (Übersetzung von
Regula Forster und Paul Michel):
Philosophia; ethica, logica, phisica. |
Philosophie; Ethik, Logik, Physik [= Naturkunde] ° |
Omnis sapientia a Domino Deo est; soli quod desiderant facere possunt
sapientes. |
Alle Weisheit ist von Gott dem Herrn; die Weisen allein können
alles, was sie wünschen, tun. |
Septem fontes sapientie fluunt de philosophia qui dicuntur liberales
artes. |
Sieben °° Quellen der Weisheit fließen aus der Philosophie,
welche ›Freie Künste‹ genannt werden. |
Spiritus sanctus inventor est septem liberalium artium que sunt
grammatica, rethorica, dialetica, musica, arithmetica, geometria,
astronomia. |
Der Heilige Geist ist der Erfinder der Sieben Freien Künste,
als da sind … |
Naturam universe rei queri docuit philosophia. |
Die Philosophie hat gelehrt, dass das Wesen jeder Sache wissenschaftlich
untersucht wird. |
Socrates; Plato; philosophi. |
... |
Philosophi primum ethicam postea phisicam deinde rethoricam docuerunt. |
Die Philosophen haben zuerst die Ethik, danach die Naturkunde, danach
die Rhetorik gelehrt. |
Philosophi sapientes mundi et gentium clerici fuerunt. |
Die Philosophen waren die Weisen der Welt und die Kleriker der Heiden.
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Arte regens dia que sunt ego philosophia subjectas artes in septem
divido partes. |
Ich, die Philosophie – indem ich durch meine Kunst die Himmels-Sphären,
die es gibt, beherrsche – teile die untergeordneten Künste
in sieben Teile. |
Grammatica; scope. – Per me quis discit vox
littera syllaba quid sit. |
Die Grammatik [Attribut:] Fitze (Rutenbündel zur Züchtigung der Schüler) – Durch mich lernt man, was
ein Laut, ein Buchstabe, eine Silbe sei. |
Rethorica; stilus; tabula. – Causarum vires
per me rethor alme requires. |
Die Rhetorik [Attribute:] Griffel und Tafel – Holder Redner,
du erforschst durch mich das Vermögen der Ursachen. |
Dialetica; caput canis. – Argumenta sino
concurrere more canino. |
Die Dialektik [Attribut:] Hundekopf – Ich lasse die Argumente
anstürmen [?] nach Hundeart. °°° |
Musica; lira; cithara; organistrum. Musica sum
late doctrix artis variate. |
Die Musik [Attribute:] Lyra, Kithara, Drehleier – Ich, die
Musik, bin eine Lehrerin einer weiten, vielfältigen Kunst. |
Arithmetica. – Ex numeris consto quorum discrimina
monstro. |
Die Arithmetik – Ich bestehe aus Zahlen, deren Unterschiede
ich aufzeige. |
Geometria; circulus. – Terre mensuras per
multas dirigo curas. |
Die Geometrie [Attribut:] Zirkel – Ich richte die Maße
der Erde mit viel Sorgfalt. |
Astronomia. Ex astris nomen traho per que discitur
omen. |
Die Astronomie – Ich habe meinen Namen von den Sternen, durch
welche man Voraussagen [zu machen] lernt. |
Hec exercicia que mundi philosophia investigavit investigata notavit
scripto firmavit et alumnis insinuavit. Septem per studia docet artes
philosophia hec elementorum scrutatur et abdita rerum. |
Dies sind die Beschäftigungen, welche die weltliche Philosophie
verfolgt; das Untersuchte festhält; durch Schrift fixiert; und
den Schülern beibringt. |
Poete vel magi; spiritu immundo instincti. |
Dichter oder Wahrsager, vom unreinen Geist ›inspiriert‹.
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Isti immundis spiritibus inspirati scribunt artem magicam et poetriam
id est fabulosa commenta. |
Diese, von unreinen Geistern inspiriert, schreiben magische und
dichterische Kunst, d.h. erfundene Hirngespinste. |
Anmerkungen:
° Diese Einteilung nach Aristoteles, Topik A,14 wurde übernommen
von Augustin, Civitas Dei VIII,4 und Isidor, Etymologiae II, 24.
°° Die Siebenzahl ist inspiriert durch die Sieben Gaben des Heiligen Geistes
Jesaias 11,2f.; zur Quellenmetapher vgl. Ecclesiasticus (= Jesus Sirach)
1,5: Fons sapientiæ verbum Dei in excelsis.
°°° nach Art der Hunde: vielleicht ein Reflex des sog. ›Hunde-Syllogismus‹. Sextus Empiricus berichtet im »Grundriss der pyrrhonischen Skepsis« (I, xiv, 62ff. – der Zusammenhang interessiert hier nicht) von einem Hund auf der Fährte eines Wilds, der an einer dreifachen Weggabelung nur zwei der drei Wege beschnuppert und dann den dritten nimmt, nach dem dialektischen Schluss:
das Wild muss den Weg A oder B oder C genommen haben;
A und B hab ich kontrolliert: hier ist es nicht;
also ist es auf Weg C.
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Dazu gehört folgender Text (in dt. Übersetzung):
§ 115. Über die Philosophie und über die Sieben freien
Künste, in welchen einige nach der Sintflut gründliche Kenntnisse
erlangt haben; nach der Sintflut nämlich befleissigten sich die einen
der Philosophie, andere – an Erkenntnisvermögen erblindet –
der Dichtkunst und Magie.
“Philosophie” heisst ‘Liebe zur Weisheit’, daher
nennt man sie “Philosophen”, das ist ‘die Weisheit Liebende’.
Die Philosophie teilt sich in drei Bereiche: Ethik, Logik, Physik. Physik
ist die die Natur betreffende Wissenschaft, Ethik ist die Wissenschaft,
die die Moral betrifft, Logik diejenige Wissenschaft, die Vernunft und
die Rede betrifft.
Der Physik ist das Quadrivium unterstellt – gleichsam als die vier
Wege um zur Weisheit zu finden: Geometrie, Astronomie, Arithmetik und
Musik. Diese vier Künste erörtern Wesen und Natur der Dinge.
Das greichische “Gene” bedeutet im Lateinischen ‘Erde’;
“metron” ist ‘Messung’, daher ist die Geometrie
Erd-Messung. Astronomie ist die Wissenschaft von den Sternen. Arithmetik
ist Wissenschaft von den Zahlen: “Rithmus” bedeutet ‘Zahl’;
“moys” bedeutet ‘Wasser’; daher [der Name] Musik,
gleichsam als die zum Wasser gehörende Wissenschaft, weil die Musiker
gleich wie das Wasser durch “arsis” und “thesis”,
das heisst durch Emporheben und Herabsenken ihre Lieder modulieren und
auch weil ohne Flüssigkeit die Stimme kaum oder nicht erklingt.
Der Logik ist das Trivium unterstellt – gleichsam als die drei Wege
um zur Weisheit zu finden: Die Grammatik, die Dialektik und die Rhetorik.
“Dia” heisst ‘zwei’, “lexi” bedeutet
‘Rede’; Dialektik ist die die Zweizahl enthaltende Rede. Die
Dialektik unterscheidet das Wahre vom Falschen. Sie grenzt auch das Falsche
mithilfe der Wahrscheinlichkeiten abwägenden [?] Vernunft. Die Rhetorik
befasst sich mit Mutmaßungen. “Gramma” heisst ‘Buchstabe’;
Grammatik ist die Wissenschaft von den Buchstaben, wie wir mittels Fällen,
Zeitformen, Bedeutungen, Numerus und Zeichen richtig reden.
So werden aus Quadrivium und Trivium sieben atheniensische Ernährer
geboren, das heisst die Sieben freien Künste, welche darum “frei”
genannt werden, weil sie die Seele von irdischen Sorgen befreien und sie
darauf vorbereiten, den Schöpfer zu erkennen. Und sie werden “athenische”
Ernährer genannt, weil das Studium bei den Athenern in größter
Blüte stand.
Die Ethik wird in zwei Bereiche geteilt, in Theorie und Praxis. “Theos”
ist griechisch und heisst ‘Gott’, das heisst ‘Erforscher’
[etymologische Brücke via “theaomai” = ‘betrachten’];
Theorie ist das spekulative bzw. kontemplative Leben. “Bractos”
ist griechisch und heisst ‘Tat’; Praxis wird das aktive Leben
genannt. Daher also ist die Philosphie Erkenntnis göttlicher und
menschlicher Dinge.
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