Wie funktioniert ein ›Zugriff‹ auf einen Wissensspeicher?

     
 

Wir unterscheiden grundsätzlich drei ineinander greifende Schritte bei einem ›Zugriff‹ auf einen Wissensspeicher (synonym: Konsultationsvorgang - Wissenstransfer- information retrieval):

(i) Die Voraussetzung dafür dass eine Enzyklopädie konultiert wird – wenn man nicht aus Vergnügen darin schmökert – ist eine Frage, eine Informations- oder Wissenslücke des Benutzers.

(ii) Die gesuchte Information kann nur in Teilen transferiert (gesucht / dargeboten) werden, das ganze Wissen einer Gesellschaft muss zwecks Transfer irgendwie in Elemente geteilt und mit einer Adresse – bzw. (synonym) einem Schlagwort bzw. einem Lemma – versehen werden.

(iii) Das Dokument – bzw. (synonym) der Artikel – , worin das Wissen (im Medium von Bild oder Text oder Gegenstand oder Film usw.) dargeboten bzw. die Frage beantwortet wird; dieses muss vom Benutzer aufgrund weiterer Kenntnisse verstanden und mit seinen bisherigen Kenntnissen vernetzt werden.

Diese kognitionspsychologischen Grundlagen einer Enzyklopädie werden im folgenden präzisiert und es werden die Bedingungen und Konsequenzen aufgezeigt.

P. Michel Okt 03

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(i): »Es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als das Erstaunen«

(Platon, Theaitetos 155d)

Nichtwissen und nach Information verlangen ist ein Zustand, der sich beim Durchschnittsmenschen und im Alltag gar nicht mal so häufig einstellt. Wir sind, solange wir in pragmatische Prozesse eingebunden sind, entweder durch Gewohnheit oder durch gezielte Schulung so konditioniert, dass uns kaum etwas Fragwürdiges entgegensteht. (Wer beim Autofahren immer wieder nachfragen müsste, ob man nun einem bestimmten Verkahrsteilnehmer den Vortritt einräumen müsse und war jenes Schild genau bedeute, käme nicht weit oder würde einen Unfall bauen.)
Selbstverständlichkeiten haben eine Entlastungsfunktion. Wir sind derart an unsere Lebenswelt angepasst, dass wir auch mit einem gewissen Prozentsatz an Unverstandenem recht gut über die Runden kommen. Ja wir weigern uns sogar, Lücken zuzugeben, verschließen die Augen, sind ›neophob‹. Selbstverständlichkeiten verhindern anderseits aber auch Wissenszuwachs und Innovationen.

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»Weil sie sich nämlich wunderten, haben die Menschen zuerst wie jetzt zu philosophieren begonnen; sie wunderten sich anfangs über das Unerklärliche, das ihnen entgegentrat.«
(Aristoteles, Metaphysik A2, 982).

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Wodurch wird das Selbstverständliche irritiert? Kants Frage »Was können wir wissen?« müsste die Frage vorausgehen ›Wie können wir merken, dass wir nichtwissen?‹) Wie kommt ein verfremdender Blick zustande? Es gibt triviale Fälle von solchen Anstößen, interessante Fälle und künstlich provozierte Situationen:

* es taucht ein fremdes Wort in einem Text auf: »In der Festungsmauer war ein Ravelin beschädigt.«

* eine Handlung kann nicht durchgeführt werden, weil entsprechendes Wissen fehlt (Wie lautet die Telefonnummer von Madeleine? Wie bereitet man ›Blancmanger‹ zu? Wo schalte ich den Videorecorder auf Standby?)

* jemand Fremder fragt uns etwas – diese dialogische Situation wird künstlich erzeugt durch Quiz-Sendungen à la »Wer wird Millionär?«

* insistierendes Fragen eines Lehrers zwingt uns, eine Wissenslücke zuzugeben und – gegebenenfalls als Hausaufgabe – auszufüllen

* paradoxe Formulierungen eines Texts, die in eine Aporie führen, provozieren uns zum Nachfragen

* Neugierde, Fähigkeit sich zu wundern.

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»Allenthalben treffen wir auf etwas, das zu selbstverständlich ist, als dass wir uns bemühen müssten, es zu verstehen. Was sie miteinander erleben, scheint den Menschen das gegebene menschliche Erleben. Das Kind, lebend in der Welt der Greise, lernt, wie es dort zugeht. Wie die Dinge eben laufen, so werden sie ihm geläufig. [...] Damit all dies viele Gegebene ihm als ebensoviel Zweifelhaftes erscheinen könnte, müsste er jenen fremden Blick entwickeln, mit dem der große Galilei einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete. Den verwunderten diese Schwingungen, als hätte er sie so nicht erwartet und verstünde es nicht von ihnen, wodurch er dann auf die Gesetzmäßigkeiten kam. Diesen Blick, so schwierig wie produktiv, muss das Theater mit seinen Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens provozieren. Es muss sein Publikum wundern machen, und dies geschieht vermittels einer Technik der Verfremdungen des Vertrauten.«
(Bert Brecht, Kleines Organon für das Theater, Abschnitt 44)

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Die besondere Art der Kenntnislücke korrespondiert natürlich mit derjenigen des Artikels, der das Wissen dann enthält, vgl. (iii)

  • die Lücke besteht aus einem Namen oder Wort oder einer Zahl: Nenne ein Synonym für ›Frühling‹! Wer hat die Jupiter-Sinfonie komponiert? Wann wurde der Westfälische Friede geschlossen?
     
  • die Lücke besteht darin, dass die Einordnung oder Spezifik eines Wissenselements nicht gewusst wird: Ist Rodeln eine olympische Disziplin? Ist der Tintenschöpfling genießbar?
     
  • die Lücke muss mit einer Geschichte gefüllt werden: Wer war Girolamo Cardano? Worin besteht die vielfältige kulturelle Überschichtung auf der Insel Malta?
     
  • die Lücke besteht in der Unkenntnis eines Arbeitsprozesses: Wie zieht man eine Quadratwurzel aus?
     
  • die Lücke besteht darin, dass man nicht weiss, was erlaubt und verboten ist: Was bedeutet ›fasten‹ im Rahmen der katholischen Kirche?
     
  • die Lücke besteht in sogenanntem Hintergrundwissen. beim Stichwort ›Fall der Berliner Mauer‹ können verschiedene Horizonte von Belang sein: die Wiedervereinigungsdebatte, die Perestroika-Politik, ...
     

Es gibt wohl weitere Typen, die aber bald ins Fachwissenschaftliche führen.

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(ii): »Kann man suchen, was man nicht kennt?«

(Platon, Menon 80d)

(a) Das Lemma ist in systematischen Enzyklopädien ein Ort am Ende eines Verzweigungsbaums und in alphabetischen Enzyklopädien ein Wort. Im ersten Fall ist das Lemma relativ sprachunabhängig, es kann sich auch um eine ganze Proposition (so z.B. bei einer Sentenzssammlung: ›Böses wird mit Bösem vergolten.‹) handeln; im zweiten Fall ist das Lemma abhängig von der Semantik der Sprache der Enzyklopädie und ihrer Benutzer.

(b) Der ›Zugriff‹ durch die Vorgabe von Lemmata ist je nach Objekt verschieden stark (und gravierend). Objektbreiche, die ›an sich‹ gut strukturiert sind (z.B. Tiere, chemische Stoffe) machen wenig Probleme – Objekte, die starken Konstruktcharakter haben, sind heikel. Beispiele: ›Möbel‹, ›Spiel‹ ...

(c) Das Lemma präsupponiert eine Anfrage des Benutzers, es sagt gleichsam ›Darüber möchtest du doch gerne Bescheid wissen, gelt?‹ Die Enzyklopädie rechnet also damit, dass nur ein Teil des Wissens dem Benutzer unbekannt ist oder dass er es wieder vergessen hat – dass er aber mindestens einen ›Zipfel‹ davon weiss, es wenigstens an einem Stichwort packen kann oder den ungefähren Ort im System kennt. Die Suche funktioniert nur dort sicher, wo das System der Enzyklopädie mit demjenigen im Kopf der Benutzer übereinstimmt. Wer eine Enzyklopädie absucht – sei dies mit einem systematischen oder einem alphabetischen Browser –, muss schon eine Vor-Information über das Gesuchte haben.

(d) Jedes Adressierungsmittel favorisiert gewisse Wissenselemente und blendet zwangsläufig andere aus. Jede Gemeinschaft von Enzyklopädie-Redaktoren und Benutzern hat ihre blinden Flecken. Diese werden erst sichtbar durch interkulturellen Verlgeich oder Blick in historisch abliegende Epochen. Enzyklopädien evozieren mit ihrem Totalitätsanspruch, es gebe in der Welt nichts, was sich nicht unter den Lemmata verhackstückt zwischen ihren Buchdeckeln finde.

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Die Informationssuche klappt in der Regel nur in einer Richtung. Keine Mühe bereitet eine Abfrage wie z.B. ›Wann hat Cézanne gelebt?‹ Wenn der dem Benutzer bekannte ›Wissenszipfel‹ aber nur eine vag umrissene Vorstellung ist, ist er aufgeschmissen: ›Wie hieß der Maler, der horizontale und vertikale Balken über die Bildfläche legt und die Zwischenräume farbig ausmalt?‹ Oder: ›Wie hieß der Mann, der den Artemistempel in Ephesos anzündete, damit sein Name der Nachwelt in Erinnerung bleibe?‹ (Erst die Volltextsuche in elektronischen Datenbanken erlaubt es, ihn zu finden.)

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Wie könnte eine Enzyklopädie das Bewusstsein dafür wachhalten, dass sie unvollständig ist? Im Medium des Buches gibt es die Technik, Blätter unbeschrieben zu lassen.
So enthält die Schedelsche Weltchronik (1493) nach der Beschreibung der Gegenwarts-Geschehnisse und vor derjenigen des Jüngsten Gerichts auf fol. CCLVIII verso den Satz: »zu beschreibung mer geschihten oder künftiger ding sinn hernach ettliche pletter lere gelassen« – und dann folgen einige leere Blätter.
Johann Jacob Scheuchzer ließ in seinem Katalog der Zürcher »Kunstkammer« (Museum Civicum Tigurinum ZBZ, Archiv 24) bei denjenigen Dingen, deren Vorhandensein er vermutete, die er aber nicht im Museum vorfand, ein halbes Blatt leer.

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(iii): »Jedes vernünftige Lehren und Lernen geht aus von einem vorher vorhandenen Wissen«

(Aristoteles, Anal. post. I,1 71a)

Im Artikel gibt die Enzyklopädie gleichsam die Antwort auf die präsupponierte Frage des Benutzers. Die Lektüre (darunter wollen wir auch das Betrachten von Gegenständen in einem Museum oder Bildern verstehen) unterliegt denselben hermeneutischen Bedingungen, die für alle Texte gelten; dazu kommen einige Spezialitäten.
Grundsätzlich gilt: Um einen Wissensspeicher zu erschließen, ist bereits Wissen nötig. Es gibt keinen Nullpunkt des Wissens. – Wir lassen das triviale Beherrschen der Sprache, in dem die Enzyklopädie abgefasst ist, weg; also Syntax, alltägliche Semantik und Konnotaionen (z.B. das Abwertende im Wort Geschmeiß in einem Artikel über Käfer bei Jablonski).

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(a) Es gibt von einem gewissen Organisiertheitsgrad an Konventionen für den Aufbau der Artikel, die dem Benutzer hilfreiche Strukturierung der Lektüre anbieten. (Beispiel: Polydor Vergilius z.B. folgt immer einem historischen Ablauf von den guten Anfängen über eine allmähliche Verderbnis bis in seine Zeit.)

(b) »Krokodile sind aus dem Geschlechte der Eidechsen, so groß wie Ochsen.« Die im Lemma genannte fremde Sache wird eingeführt anhand einer bekannten Sache (hier: ein einheimisches Tier) und einer Operation, die der Benutzer ausführen muss (hier: ein Größentransfer). Jeder Text im Artikel knüpft an ein Wissen des Benutzers an und setzt ein Können voraus. (In der Linguistik: ›Präsuppositionen‹)

  • Wissen, das der Benützer andernorts in der Enzyklopädie nachschlagen kann, wird mit Querverweisen (renvois) erschlossen; das ist abgesehen von Zirkelverweisen unproblematisch. Immerhin ist zu beachten, dass es verschiedene Typen von Verweisen gibt.
  • Wissen / Können, das von ausserhalb der Enzyklopädie beigetragen werden muss, ist problematischer. Hierbei handelt es sich oft um Wertungen (dass die Schlacht von Marignano für die Schweizergeschichte ein Tiefpunkt ist) oder Paradigmata (dass die historische Entwicklung in Stufen voranschreitet), oder Frames und Scripts oder andere nicht hinterfragte Grundannahmen (dass rare Dinge kostbar sind; bis in welche Sphäre des Lebens die Bereich eines Mächtigen reicht).

(c) Im Gegensatz zu einem belletristischen Text, bei dem der Leser die ›Leer-‹ oder ›Unbestimmtheitsstellen‹ nach Lust und Laune ausfüllen darf, ja der umso mehr goutiert wird, je mehr er diese Tätigkeit begünstigt, soll der Leser eines Fachtextes beim Ausfüllen der Leerstellen gegängelt werden (bei Gebrauchsanleitungen: damit der Videorecorder dann funktioniert; oder bei Gesetzestexten: damit der Übeltäter seine gerechte Strafe bekommt; usw.) Es fragt sich, wie eine Enzyklopädie das Leerstellenfüll-Managment durch textuelle Mittel bewerkstelligt.

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