Was soll als Enzyklopädie gelten?

     
 

Was soll als Enzyklopädie gelten?

Richtig gelesen! Die Frage ist nicht: Was ist denn eine Enzyklopädie? Oder gar: was ist das Wesen einer Enzyklopädie? Im Gegensatz zu gewissen naturwissenschaftlichen Objektbereichen (das Genom von Escherichia Coli) ist in den Kulturwissenschaften das Objekt nicht a se vorgegeben, sondern konstituiert sich erst im – an den Phänomenen orientierten – Zugriff der Forschung. Ein gutes Design des Objekts bewährt sich dadurch, dass es interessante Fragestellungen erzeugt und Lösungen zu ihrere Beantwortung bereitstellt.

Die Begriffsgeschichte von 'Enzyklopädie' ist aufgearbeitet.* Damit ist aber wenig geleistet für die Erfassung des Phänomens. Viele als enzyklopädisch aufzufassende Texte (aus der Vormodernne) tragen nicht den Titel "Enzyklopädie", sondern zum Beispiel "Schatzhaus", "Goldgrube" oder "Marktplatz". Umgekehrt können sich unter dem Titel "Enzyklopädie" ganz andere Werke verstecken. (Es gibt auch einen parasitären Gebrauch des Wortes, namentlich in der Verlags-Branche, wo der Begriff verkaufsfördernd eingesetzt wird, wenn etwa ein Kochbuch als "Enzyklopädie der Küchenkräuter" vermarktet wird.) Wir würden den Blick auch unklug einschränken, wenn wir nur die "Encyclopédie" und damit verwandte Texte der Aufklärung betrachten wollten.

Wir dürfen das Objekt nicht einfach aus der Warte eines modernen, am Brockhaus geschulten Blicks konstruieren; Enzyklopädien in dieser Form gibt es (im Abendland) erst seit etwa 1700. In älteren Epochen unserer eigenen Kultur – und sicherlich auch in anderen Kulturen – gibt es ganz andrere ‘Inszenierungen' des Enzyklopädischen (die uns als Verkappungen in verschiedenen literarischen Formen vorkommen, was es aber Zeitgenossen überhaupt nicht so empfanden): Enzyklopädien in Form von Reiseberichten, einer Vita, einer Landkarte usw.

Und es gibt das Gegenteil davon: Texte, die prima vista als Enzyklopädien erscheinen, aber im Grund keine sind. So gibt sich der »Dictionnaire« des Pierre Bayle formal als Enzyklopädie (genau so wie sein gehasster Vorläufer des Abbé Moréri) – abe genau besehen ist er eine Anti-Enzyklopädie, in der man eben gerade keine Auskunft findet, sondern in den Strudel des Skeptizismus hineingesogen wird. Aber auch diese Werke sollten wir keinesfalls aus der Betrachtung ausschliessen.

Enzyklopädien in unserem Sinne gehören zu jenen Gebilden, die nur als in "Familienverwandtschaft" (L. Wittgenstein) stehende zu beschreiben sind.

Was also soll als Enzyklopädie gelten?
Es gibt eine Reihe von eher zentralen Merkmalen (die miteinander zusammenhängen), sowie Merkmale der Peripherie. Kernmerkmale können indessen gelegentlich auch fehlen. Als Enzyklopädien wollen wir betrachten, Texte, die im Kern folgende Eigenschaften präsumieren:

  • Enzyklopädien wollen umfassend sein (Alsted 1630: Encyclopaedia est methodica comprehensio rerum omnium in hac vita homini discendarum). Freilich gibt es auch Enzyklopädien von Teilgebieten (z.B. nur Zoologie); dann aber werden diese umfassend ausgeschöpft. – Dieser Totalitätsanspruch wird (mit verschiedenen Mitteln) unterstrichen.
     
  • Enzyklopädien möchten keine ungeordneten Haufen von Wissensbrocken sein (darin unterscheiden sie sich von ihren Vorläufern, der Buntschriftstellerei), sondern eine Schau. Sie implizieren ein Ordnungsprinzip, mit dem die unendlich vielgestaltige Fülle der Information organisiert wird — Metaphern hierfür sind: der Baum mit Wurzel, Stamm und Ästen; die Quelle, woraus Flüsse entspringen.
     
  • Enzyklopädien wollen 'konsultiert' werden, das ist ein spezifischer Lesemodus. d.h. sie sind nicht auf Ganzschriftlektüre angelegt; deshalb bieten sie bestimmte Zugriff-Möglichkeiten an (statim invenire-Techniken mittels Systematik, Registerhilfen). Es wäre ein Thema der Linguistik, zu zeigen, wie sich dieses Angebot des Lesemodus in der Textstruktur im Detail niederschlägt.
     
  • Enzyklopädien beziehen die Informationen entweder aus zweiter Hand, per Kompilation und schneiden somit das gespeicherte Wissen in der Regel von der Wissensproduktion ab (vgl. Predigsteller und Konversationslexika) – oder sie versuchen an die Quelle der Wissensproduktion heranzuführen und stellen Plattformen des Diskurses dar (vgl. Bayle, Diderot). Beide Typen müssen verfolgt werden.
     
  • Enzyklopädien geben Auskunft über Dinge, nicht über Wörter (freilich gibt es Mischtypen, vgl. Larousse), wobei der Unterschiede zwischen dem semantischen und dem Weltwissen schwer definiert werden kann.
     
  • Es gibt (mehr oder weniger eingestandene) hintergründige Ziele von Enzyklopädien, die über die Vermittlung von Stoff hinausgehen; z.B. die Repräsentation von Identität; die urmenschliche Befriedigung darüber, das Kontingente irgendwie dem Geist untergeordnet, verfügbar gemacht zu haben; Legitimation von Ordnung; Propagierung eines Fortschrittsmodells ("wie herrlich weit wir es gebracht"); Lob Gottes durch Betrachtung der Schöpfung; Ermöglichung einer geselligen Konversation durch Bereitstellung geeigneter unanstößiger Themen usw.
     

 

*Jürgen Henningsen, "Enzyklopädie". Zur Sprach- und Bedeutungsgeschichte eines pädagogischen Begriffs. In: Archiv für Begriffsgeschichte 10. 1966. S. 217–362. – Artikel "Enkyklios Paideia". In: Reallexikon für Antike und Christentum 5. 1962. Spalten 365–398.

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