Bäume des Wissens

     
 

»Bäume des Wissens« – Worum es geht

Es geht hier nicht um die Abbildung von Bäumen, sondern um die Wissensorganisation mittels Graphiken (oder genauer: Graphen), die aussehen können wie Bäume mit Ästen und Verzweigungen.

Was für Objekt-Mengen werden mittels Baumgraphiken visualisiert? Welche logische Struktur haben die visualisierten Objekte? (O)

Baumgraphiken haben auch andere Funktionen (F), als Wissen zu visualisieren. (Eine Gestalt / mehrere Funktionen: Homonymie).

Die Visualisierung (T) fällt leicht verschieden aus: Bäume (im logischen Sinne der Graphentheorie) können etwas ungewohnt aussehen (Eine Funktion / verschiedene Gestalten: Synonymie).

Der Artikel ist etwas eurozentrisch. In anderen Kulturen gibt es ähnliche Bäume.

Inhaltsübersicht:

Leitmetaphern bei der Wissensrepräsentation: Meer – Netz – Liste – Stufenleiter – Baum

Andere Funktionen von Baumgraphiken

Verschiedene graphische Darbietungen an der Oberfläche

Objekte, die mit Baumgraphiken visualisiert werden

detailliertere Inhaltsübersicht dort

Die Logik von Verzweigungen in Baumgraphen

Anforderungen an eine Taxonomie

Literaturhinweise

 
     
 

Leitmetaphern bei der Wissensrepräsentation und was sie suggerieren

Das Meer

Wer sich das Wissen als Meer vorstellt, nimmt an, das Wissen sei unübersichtlich, unendlich reichhaltig, und alles Einzelwissen stehe in einen grenzenlosen Zusammenhang. Der Surfer navigiert nicht wie ein herkömmlicher Kapitän, sondern er entscheidet nur, auf welche Welle er aufspringen will, und lässt es im ungewissen, wohin sie ihn trägt.

Das Netz

Wer sich das Wissen als Netz (gerichteter Graph, bei dem Zyklen erlaubt sind) organisiert vorstellt, suggeriert dem Benutzer der Enzyklopädie, dass er von Querverweisen in einem Artikel aus zu thematisch verwandten Wissensgebieten gelangt wie von Knoten an Fäden entlang zu weiteren Knoten.

Die »Encyclopédie« (1751ff.) ist durchzogen von Querverweisen (les renvois), welche die einzelnen, alphabetisch angeordneten – und damit inhaltlich oft weit voneinander abliegenden – Artikel wie ein Netz miteinander verbinden (Hypertext).

Diderot unterscheidet in seinem Artikel ›Enyclopédie‹ (in Band 5) zwei Typen von Verweisungen: Solche, die eine Verwandtschaft mit Gegenständen aufzeigen, die man sonst für abgesondert gehalten hätte; und solche, die unterstellte Zusammenhänge widerlegen. Dies zielt auf eine Änderung der herkömmlichen Denkweise ab.

Quelle: Gilles Blanchard et Mark Olsen, Le système de renvoi dans l’Encyclopédie. Une cartographie des structures de connaissances au XVIIIe, dans: Recherches sur Diderot et sur l'Encyclopédie, Numéro 31-32 (Avril 2002), pp. 45–70. (mis en ligne le 16 mars 2008) [www]

Hier ein eigener Versuch: als PDF in neuem Fenster [pop-up]

Das Rhizom

Eine Ordnung, die verflochten ist und nicht durch Dichotomien bestimmt wird. Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen werden, es wuchert weiter. Seine einzelnen Punkte können und sollen miteinander verbunden werden. Unterschiedlichste Sachverhalte können miteinander in Verbindung treten. – Gilles Deleuze / Felix Guattari (1977). Gute Charakterisierung bei: Umberto ECO, Kritik des Porphyrschen Baumes, in: U.E., Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig: Reclam, 1989, S. 106f.

Die Liste

Auflistungen des Wissenswerten sind sehr alt (Sumer, 2500 BCE; »Onomastikon des Amenemope«, Ägypten, erste Hälfte des 2. Jahrtausends BCE): Inventare über alle Dinge in der Welt.

Eine Form, die zum Auffinden von Wissens-Objekten nur praktikabel ist mit alphabetischen Schriftsytemen.

Bibliotheksliste im Kloster Einsiedeln mit auswechselbaren Zetteln zum Einfügen von Neuzugängen. Aufnahme PM

Literaturhinweis: Umberto ECO, Die unendliche Liste, übersetzt von Barbara Kleiner, München: Hanser 2009.

Die Stufenleiter

In den mittelalterlichen Schulen wurde zuerst Latein gepaukt, dann wurden die Schüler ausgebildet im Trivium, dann im Quadrivium, dann erfolgte ein spezialisiertes Studium in wahlweise Philosophie, Medizin, Jurisprudenz oder Theologie. – Wir kennen das aus unserem Schulunterricht (man achte auf die Gebäudemetaphorik): zuerst werden ›Basis‹-Kenntnisse vermittelt, die ›Grundlagen‹; dann ›steigt der Schüler auf‹ über ›Stufen‹, bis er in ›höhere‹ Schulen gelangt.

Bild aus: Gregor Reisch (ca. 1470–1525), »Margarita Philosophica«, Freiburg: Joh. Schott 1503 [die erste Ausgabe].

Der Baum

Wer sich das Wissen als Baum organisiert vorstellt, suggeriert dem Benutzer einer Sammlung von Wissenselementen, dass er durch immer spezifischer werdende Fragen an das Gesuchte herankommt; von einem Stamm aus kommt man zu jedem Zweig und der daran hängenden Frucht. Das Wissen wird ausserdem als organisch-einheitlich-zusammenhängend aufgefasst.

Quelle: Petrus Ramus (1515–1572), Petri Rami institutionum dialectricarum libri tres, Parisiis 1550.

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›Verzweigungen‹ können optisch auch anders dargeboten werden

• Stark stilisierte Bäume

Beispiel 1: Alcuin, Dialektik (Hs. des 9. Jahrhunderts), Zürich, Zentralbibliothek [Standort St. Gallen, Stiftsbibliothek] Handschrift C 80, fol. 109r – Damit die ›Wurzel› unten ist, müsste man das Bild um 180 Grad drehen.

 

Beispiel 2: Tableavx Accomplis De Tous Les Arts Liberavx: Par Monsieur Christofle De Savigny, A Paris: Par Iean & François de Gourmont freres, demeurants ruë Sainct Iean de Latran 1587. Digitalisat der HABibliothek Wolfenbüttel [www <Zugriff Mai 2012>] – Die ›Wurzel‹ ist links bei der doppelt umrandeten Ellipse.

Beispiel 3: Baum in Kreisform. Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Phylogenetic_Tree_of_Life.png <29.6.12>. Diese Darstellung ist geeignet, die mengenmäßigen Anteile der ›am Baum hängenden Früchte‹ zu visualisieren; dazu sind alle Enden des Diagramms auf einem Kreisbogen angeordnet und die Größe der Sektoren repräsentiert die Quantität. – (Wir erkennen etwas verdutzt, dass die Animalia einen verschwindend kleinen Teil der Arten darstellen. Vgl. im Kontrast dazu die Darstellung von Haeckel, mit dem Menschen als Wipfel des Baums!)

Vgl. auch: A phylogenetic tree of life, showing the relationship between species whose genomes had been sequenced as of 2006. Author: David Mark Hillis Tree of Life [www Wikimedia <28.6.12>]

• Typographisch mittels geschweifter Klammern realisierte Baumstrukturen:

Beispiel: Rudolphi Agricolae Phrisii De inventione dialectica, MDXXXVIII. – Die geschweiften Klammern hatte der Drucker nicht im Setzkasten; sie wurden nachträglich handschriftlich eingetragen. Die Graphik ist hier um 90° gedreht, um die Baumstruktur zu verdeutlichen.

• Numerierung plus Zeileneinzüge

Beispiel: Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960. – Je weiter die Zeilen nach rechts eingezogen ist, desto weiter ›oben‹ befindet man sich im Baum. Auch diese Graphik ist so gedreht, dass die Baumstruktur offenkundiger wird.

• Diese Visualisierung von Deweys Dezimalklassifikation sieht oberflächlich betrachtet überhaupt nicht aus wie ein Baum, ist aber logisch einer; sie zeigt bei 5 einen sich verzweigenden Stamm. Vgl. hierzu unten.

aus: Karl Wilhelm Bührer / Adolf Saager, Die Welt-Registratur. Das Melvil-Deweysche Dezimal-System, München 1912.

• Als Flächenschachtelung

(Graphik von P.M.)

Beispiel: What did Switzerland export in 2014? in: The Atlas of Economic Complexity > http://atlas.cid.harvard.edu/explore/tree_map/export/che/all/show/2014/ <14-05-2016>

• Als Text (sieh unten bei Porphyr)

• Als Tabelle (sieh unten bei Linné 1735)

• Mit verschiedenen typographischen Klammern:

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Baumsymbolik

Wer eine abstrakte Struktur als Baum visualisiert, impliziert entweder oder nimmt in Kauf, dass die Betrachter gewisse Konnotationen assoziieren. Denn der Baum ist ein obsessives Symbol.

Mächtigkeit (Isidor von Sevilla leitet in seinen »Etymologien« das Wort ›Baum‹ von ›Härte, Kraft‹ ab: Arbor a robore); Bäume übertreffen uns an Größe und Alter;

Bäume sind vital: nach dem Laubfall treiben sie im Frühling wieder aus;

Bäume wachsen aus dem Boden in den Himmel; und sie wurzeln oft tiefgründig;

an Bäumen wird die Zeit ablesbar (Jahrringe!);

Bäume bringen einen nach-wachsenden Nutzen: Bauholz, Brennholz, Viehtrieb zur Eichelmast;

das Roden von Wäldern ist eine Kultivierungs- / Kulturleistung (›urbarmachen‹);

das Fällen eines Baums kann als Frevel aufgefasst werden, der Rache nach sich zieht;

Bäume sind Individuen (Variantenreichtum), jedenfalls wenn man sie samt den abgestorbenen Ästen stehen lässt;

auf Bäume lässt sich hochklettern;

typisch sind die Verzweigungen.

 

Der Pharao trinkt an der Brust der Baumgöttin Nut. (Grab des Thutmosis III., Men-cheper-Re; gest. 1425 B.C.E.). Quelle: Wikimedia; vgl. dazu Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament, Einsiedeln: Benziger 1972 (und Neuauflagen); S. 164ff.

Literaturhinweise

Jacques BROSSE, Mythologie der Bäume, Olten: Walter 1990. (Mythologie des Arbres, Paris: Plon 1989.)

Alexander DEMANDT, Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte, Köln: Böhlau 2002.

Gertrud HÖHLER, Die Bäume des Lebens. Baumsymbole in den Kulturen der Menschheit, 1985. Stuttgart: dva 19858.

Manfred LURKER, Der Baum in Glauben und Kunst. Unter besonderer Berücksichtigung der Werke des Hieronymus Bosch, (1960) 2., erw. Aufl. mit Bibliogr. zum Baum-Thema, Baden-Baden: Koerner 1976 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 328).

Otto MAZAL, Der Baum. Ein Symbol des Lebens in der Buchmalerei, Graz: ADAV 1988.

Michel PASTOUREAU (Hg.): L’arbre. Histoire naturelle et symbolique de l’arbre, du bois et du fruit au Moyen Age. Paris: Éditions le Léopard d’Or 1993.

Liselotte STAUCH / Walter FÖHL, Artikel »Baum«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. II (1938), Sp. 63–90 > http://www.rdklabor.de/w/?oldid=95640

Wikipedia-Artikel > https://en.wikipedia.org/wiki/Tree_of_life

Verschiedene Artikel zu Bäumen im WiBiLex = Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet > http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/72821

Deshalb werden Bäume auch gezeichnet, wenn sie nichts mit der Visualisierung von Wissen zu tun haben, zum Beispiel in der Werbegraphik, wo sie das Wachstum des Geldes von Ersparnissen u.ä. symbolisieren sollen. Diese Fälle schließen wir aus der Betrachtung aus.

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Baumgraphiken haben auch andere Funktionen, als Wissensorganisation zu visualisieren.

Baumgraphiken behaupten, allumfassend zu sein (alles entsprießt einem einzigen Stamm);

Baumgraphiken lassen sich leicht memorieren; sie sind didaktisch einprägsam;

Baumgraphiken dienen zur Strukturierung / als Findehilfe in einem Gebiet, das sprachlich schwer strukturierbar ist oder von Verschiedensprachigen genutzt wird;

Baumgraphiken zeigen die nähere oder fernere Zusammengehörigkeit der damit geordneten Dinge;

Baumgraphiken können Abläufe veranschaulichen;

Baumgraphiken implizieren gerne eine Rangordnung (am Stamm = gut; bei den Verzweigungen = schlechter).

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Objekte und Strukturen, die mit Baumgraphiken visualisiert werden

Familienverwandtschaften (Genealogie)

Die Ordnung der Natur

Die ganze Welt

Wissenschaftliche Disziplinen

Lemmata in Enzyklopädien

Bibliotheken und Sammlungen

entwicklungsphysiologische Ausdifferenzierung

Rohrleitungsnetz

Entscheidungsprozesse (decision tree)

Organisationen

Tugenden und Laster

Einschachtelung (Merologie)

Nicht-taxonomische und nicht-genealogische Bäume:

Karriere

Playing schedule

Je nach Objekttyp können die Arten der Verzweigungen und die Funktionen verschieden sein.

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• Objekt: Genealogie

Zwei Typen sind zu unterscheiden: Die Ahnentafel listet ausgehend von einer Person die Vorfahren auf — der Stammbaum listet ausgehend von einer Person die Nachkommen auf.

Funktionen:

• Sie beweisen die Rechtmäßigkeit des Herkommens (Erbfolge!);

• mit ihnen ist es möglich, die eigene Familie auf Heroen der mythischen Vorzeit (Aeneas) zurückzuführen;

• sie helfen die eigene gegen andere Sippen abzugrenzen;

• sie helfen inzestuöse (und damit kirchenrechtlich ungültige) Ehen vermeiden.

Eine der Anregungen, Familienabstammungen als Baum darzustellen, stammt (!) aus der Metapher von der Wurzel Jesse:

Biblische Grundlagen: Jesaja 11, 1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. – 11,10 Und es wird geschehen zu der Zeit, dass das Reis aus der Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. – Jesaja 53, 2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. – Römer 15,12 bezieht die Jesaias-Stelle explizit auf Jesus Christus: Und wiederum spricht Jesaja (Jesaja 11,10): »Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen.« – Apokalypse 22, 6 Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch dies zu bezeugen für die Gemeinden. Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids,

Die Kirchenväter bauen diese Vorstellung aus. In Bildwerken ist die Vorstellung oft anzutreffen.

Lateinischer Psalter aus England - BSB Clm 835, (1. Viertel 13. Jh.)
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00012920/image_251

Tobias Stimmer (1539–1584), »Stammbaum Jesse«, aus Max Bendel, Tobias Stimmer, Leben und Werke, Zürich 1940.

In der Bibel sind Stammbäume immer wieder wichtig. Beispiel: Genesis 10,2ff. die Familie von Japhet, hier in der Darstellung der Schedelschen Weltchronik (1493), fol XVI recto (hier ist die Wurzel oben):

Adlige brauchen früh Stammbäume / Ahnentafeln, weil mit der Genealogie auch Herrschaftsansprüche verbunden sind.

Cosmographia. Beschreibung aller Lender durch Sebastianum Munsterum in wölcher begriffen. Aller völcker Herrschafften, Stetten vnnd namhafftiger flecken / härkommen…. Allenthalben fast seer gemeret und gebessert / auch mit einem zuogelegten Register vil breüchlicher gemacht. Basel, Heinrich Petri, 1546; Seite ccccciij

Ein älteres Beispiel mit eingefügten ›Portraits‹: Verwandtschaftstafel der Ottonen (Chronica St. Pantaleonis, 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 74.3 Aug., pag. 226) hier [www HAB]

Die Juristen erarbeiteten abstrakte Verwandtschaftsrelations-Graphiken (arbor consanguitatis), die aussehen wie Bäume.

(J. Depn. 2010) In den »Etymologiae« Isidors von Sevilla (um 560-636) IX,vi: De agnatis et cognatis Text und Graphik [www Bibliotheca Augustana] finden sich im Anhang an die Kapitel über Verwandtschaften schematische Tafeln, anhand welcher die Stellung einer Person zu einem bestimmten Verwandten abgelesen werden kann. Grundlegend für diese Abbildungen ist die Anordnung abstrakter Verwandtschaftsverhältnisse in einer stilisierten Baumform, oft dargestellt als Dreieck mit einem Stamm. Vorfahren (Aszendenten) und Nachkommen (Deszendenten) bilden eine direkte Linie, in der Regel den Stamm, von welchen wiederum deren Deszendenten als Linien abgehen. Die Entfernung zur Person wird in der Regel in Graden angegeben, was durch römische Ziffern markiert wird.

Das Bild des Baumes zur Veranschaulichung der sich ausbreitenden Familie mag zunächst naheliegen, wird jedoch in der Darstellung der Genealogie entweder auf den Kopf gestellt (ausgehend von der Spitze des Baumes, nicht von den Wurzeln) oder widerspricht in anderer Weise dem natürlichen Wachstum (das ego befindet sich in der Mitte des Baumes, die Familie breitet sich sowohl in die Baumkrone als auch zu den Wurzeln hin aus).

Die Funktion der Verwandtschaftstafeln lag nur sekundär in der semantischen Erläuterung von Verwandtschaftsgraden. In erster Linie dienten sie als praktisches Hilfsmittel, entweder im Erbrecht oder im Eherecht. Da im römischen Recht nicht die natürliche Blutsverwandtschaft (cognatio oder consanguinitas) ausschlaggebend war, welche auch durch Frauen begründet sein konnte, sondern die Gewaltverwandtschaft (agnatio), d.h. die Blutsverwandtschaft väterlicherseits, wurde hierfür ein eigener Darstellungstyp entwickelt. Dieser hebt sich in seiner Gestaltung ab, indem die Ausgangsperson (ipse) an die oberste Stelle gesetzt wurde. Vgl. hier.

Da im Mittelalter Verwandtschaft als wichtiges Ehehindernis dienen konnte, war die Baumdarstellung schliesslich für die Kleriker, die für das Eherecht zuständig waren, von grosser Bedeutung. Allerdings findet sich die richtige Benennung des 6. und 7. Grades der Deszendenz nur in den wenigsten Handschriften, stattdessen ist eine gewisse Variation auszumachen. Auch zwischen den frühen Codices und der Druckversion von 1489 lassen sich Differenzen finden. So zeigt der Inkunabel-Holzschnitt das Individuum in einer zentralen Position sowie daneben dessen Schwester und Bruder (frater und soror). In den Zeichnungen mehrerer Codices dagegen wurde das Ich (ego) oftmals ausgelassen – und somit auch dessen Geschwister sowie deren Nachkommen. Vgl. hier.

Isidorus Hispalensis. Etymologiae. Basel, Furter, 1489

Max CONRAT (Cohn), Arbor iuris des früheren Mittelalters mit eigenartiger Komputation, in: Abhandlungen der königlichen preussischen Akademie (Philosophische-historische Classe, 1909), Anhang, Abhandlung II. Digitalisat [www archive.org]

Hermann SCHADT, Die Darstellungen der Arbores Consanguinitatis und der Arbores Affinitatis, Tübingen: Verlag Ernst Wasmuth 1982.

Johann Amos Comenius (1592–1670) verwendet in seinem »Orbis sensualium pictus« (1658) einen Sipschafft-Baum für einen anderen Zweck, nämlich um die Bezeichnungen für die Verwandtschaft zu visualisieren:

Joh. Amos Comenii Orbis sensualium pictus. Hoc est omnium fundamentalium in mundo rerum & in vita actionum pictura & nomenclatura. Die sichtbare Welt / das ist / Aller vornemsten Welt=Dinge und Lebens=Verrichtungen Vorbildung und Benahmung, Nürnberg: Michael Endter 1658. (Reprint: Die bibliophilen Taschenbücher, Dortmund 1978.)

Giovanni Boccaccio (1313–1375) hat in seiner »Genealogia Deorum« Götterstammbäume gezeichnet.

Genealogie Johannis Boccacii cum micantissimis arborum effigiationibus cujusque gentilis dei progeniem, non tam aperte quam summatim declarantibus cumque praefoecunda omnium quae in hoc libro sunt ad finem tabula. Parrhisiis: Louis Hornken 1511.

Ernest H. WILKINS, The Genealogy of the Genealogical Trees of the "Genealogia Deorum", in: Modern Philology, Vol. 23/1 (1925), pp. 61–65.

Aber nicht nur Familien haben ihre Stammbäume; auch voneinander abgeschriebene Handschriften haben eine ›Deszendenz‹. In der Textkritik ist die Erstellung eines Stemmas eine Königsdisziplin. (Aber wehe, wenn eine Abschreiberin ihren Text aus zwei Handschriften zusammengestoppelt hat... dann gibt es keine Verzweigung, sondern an zwei Zweigen hängt éine Frucht.)

E. Kroymann, Die Tertullian-Überlieferung in Italien, Wien 1898 – Die Zeitachse hat man sich von oben (älter) nach unten (jünger) vorzustellen.

Auch die Derivate von Stoffen lassen sich so darstellen:

Einen Baum »Abkömmlinge (Veredelung) der Steinkohle« gab es in typographischer Realisation in Meyers Lexikon (7. Auflage) 1924:

Für Schüler so visualisiert:

Schweizer Pestalozzi-Schülerkalender 1917, S. 246.

Das U.S. Department of the Interior, U.S. Geological Survey hat ebenfalls einen graphisch ansprechenden ins Netz gestellt: Coal byproducts in tree form [www <Zugriff Mai 2020>]

Ein schönes Beispiel ist die Visualisierung der Evolution der Architekturstile:

Banister Fletcher, A History of Architecture on the Comparative Method, London 1950. The Tree of Architecture [pop-up]

Man kann mit einer Baum-Graphik auch Geschichte visualisieren (jedenfalls, solange man nicht damit rechnet, dass sich einzelne Abkömmlinge miteinander kreuzen ...). Vgl. Britta Orgovanyi-Hanstein.

Als Plattencover mag es hingehn:

Quelle: Joachim-Ernst Berendt (1922–2000): Was ist Jazz? MPS/Metronome 88.032-2 (1977)

Literaturhinweise:

Christiane KLAPISCH-ZUBER: Stammbäume. Eine illustrierte Geschichte der Ahnenkunde. Übersetzt von Egbert Baqué. München: Knesebeck 2004.

Daniel ROSENBERG / Anthony GRAFTON, Cartographies of Time. A History of the Timeline, Princeton Architectural Press 2010.

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• Objekt: Die Ordnung der Natur

Die bunte Fülle des Lebendigen zu ordnen ist ein uraltes Anliegen.

Lange dominierten Stufenleiter-Modelle: Vom primitivsten Lebewesen (Amöben, Polypen) über Fische – Lurche – Vögel – Säugetiere – bis hinauf zum Menschen. So ordnen mittelalterliche Enzyklopädien (Bartholomaeus Anglicus, »De proprietatibus rerum«, nach 1235), und dieses Modell verwendet 1779 noch Charles Bonnet. – Ende des 17. / Anfang 18. Jh. begann man, neue Systeme zu entwickeln.

Carl von Linné (1707–1778)

Die Klassifikation beruht bei Linné auf morphologischen Kriterien (bei den Pflanzen auf Verschiedenheiten des Baus der Blüte); ›natürlich‹ heisst das System, weil Leute wie Linné der Meinung waren, die vom Schöpfer in die Kreaturen hineingelegte Ordnung aufzuzeigen.

Linnés Tabelle ist logisch gesehen ein sich stets verzweigender Baum; hier vereinfacht und so gedreht, dass der ›Stamm‹ unten ist und die ›Zweige‹ oben sind. Als PDF in neuem Fenster [pop-up] Das Original hier: Tabelle [www wikimedia <Zugriff Mai 2012>]

Caroli Linnæi Systema naturæ, sive regna tria naturæ systematice proposita per classes, ordines, genera, & species, Leiden 1735

Charles Darwin (1809–1882)

Darwin denkt nicht morphologisch, sondern phylogenetisch, d.h. seine Graphik will die stammesgeschichtliche Entwicklung abbilden.

Skizze zur Entstehung der Arten aus dem Notebook B (1837)

Das Schema zeigt – im Gegensatz zu älteren Vorstellungen – keine Stufenleiter der Lebewesen, sondern visualisiert die Idee, dass

(1) alle Arten aus gemeinsamen Vorfahren hervorgegangen sind. (Es entstehen spontan keine neuen Striche oder Punkte, alle lassen sich zurückführen.)

(2) sich in Populationen Varianten bilden können, die dann einander konkurrenzieren oder geographisch isoliert werden. (Die Verzweigungen)

(3) einzelne Populationen aussterben, andere, besser an die Umweltbedingungen angepasste, überleben (Die Striche, die mit einem Querbalken aufhören.).

An einer anderen Stelle (B 25, S. 177 der modernen Edition; Bredekamp Anm. 47) sagt Darwin: The tree of life should perhaps be called the coral of life. Logisch gesprochen ist es ein gerichteter Graph, der nur Abzweigungen und keine Zyklen zulässt, sich mithin als Baum darstellen ließe. Darwin vermeidet indessen in der Skizze die Konnotation von unten/oben und mithin von weniger edel / edler. In der Druckfassung von »The Origin of Species« (1859) ist die Graphik [www wikimedia <Mai 2010>] dann aber in die zeitliche Dimension gestreckt, so dass sie das Aussehen eines Baumes bekommt.

Moderne Darstellung [www Wikipedia <Mai 2010>] eines phylogenetischen Baums.

Ernst Haeckel (1834–1919)

Ernst Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammes-Geschichte; mit 12 Tafeln, 210 Holzschnitten und 36 genetischen Tabellen, 2., unveränd. Aufl. Leipzig: Engelmann 1874, Tafel XII: Stammbaum des Menschen.

Haeckel, der Popularisator Darwins, hat dessen Schema zu einer knorrigen Eiche mit ausgeprägeter Sprossachse konkretisiert. An der Spitze des Baums: der Homo Sapiens als Kulminationspunkt der Evolution. Das ist nicht im Geiste Darwins, nach dessen Meinung alle existierenden Lebewesen (Bakterien, Pilze, Molche, Gorillas gleichermaßen) fit for the struggle of life sind, sonst wären sie ja ausgestorben.

Literaturhinweise:

Horst BREDEKAMP, Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin: Wagenbach 2005.

Julia VOSS, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837–1874, Frankfurt am Main: Fischer 2007 (Fischer-Taschenbuch 17627); bes. S. 95–174.

Geologie

Auch in anderen Gebieten sind Baumgraphiken anzuwenden versucht worden. Hier handelt es sich eher um ein Prozess-Diagramm, bei dem einzelne Zweige wieder begrifflich miteinander verbunden sind. (Konglomerate gibt es bei der biologischen Abstammung nicht.)

Schema der Sedimentgesteine aus: Kleine Enzyklopädie Natur, (Hauptredaktion Gerhard Niese), Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie, 1961, S.377.

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• Objekt: Die ganze Welt

Plato und seine vielen Nachfolger wollten einen metaphysischen Weltzusammenhang aufzeigen, indem sie darlegten, wie aus dem Einen (der Idee) das Viele (die wirklichen Dinge) hervorgehen. Dazu haben sie eine Zergliederungstechnik entwickelt (dihairesis, vgl. den entsprechenden Artikel in der Wikipedia [www, seit 2012 im Netz])

Porphyrios (ca. 234 – 301/305) verfasste eine Einführung in die Kategorien-Schrift des Aristoteles, die im Mittelalter in der lateinischen Übersetzung des Boethius (um 480 – 524) rezipiert und nochmals mehrfach kommentiert wurde. Für unsere Belange ist folgende Passage wichtig:

Unter Substanz fällt Körper, unter Körper [fällt] beseelter Körper, worunter Sinnenwesen fällt; unter Sinnenwesen aber vernünftiges Sinnenwesen, worunter Mensch fällt; unter Mensch aber fällt Sokrates, Plato und die einzelnen Menschen. Aber unter diesen Begriffen ist Substanz am generellsten und nur Gattung [d.h.: hat keine weitere Gattung über sich], Mensch am speziellsten und nur Art [d.h. hat keine weiteren Arten unter sich, nur Individuen]. Körper aber ist Art von Substanz und Gattung von beseelter Körper. Aber auch beseelter Körper ist Art von Körper und Gattung von Sinnenwesen. Sinnenwesen wieder ist Art von beseelter Körper und Gattung von vernünftiges Sinnenwesen. Vernünftiges Sinnenwesen aber ist Art von Sinnenwesen und Gattung von Mensch. Mensch aber ist zwar Art von Sinnenwesen, aber nicht auch Gattung für die einzelnen Menschen, sondern nur Art. Und alles, was unmittelbar vor den Individuen ausgesagt wird, ist nur Art, nicht auch Gattung.

Der Text lässt sich in Gestalt eines Baumes visualisieren.

Im Neuplatonismus sind solche Taxonomien öfters anzutreffen. Hier aus Philo von Alexandrien (um 25 vor – um 40 u. Z. ) »Über die Frage: Wer ist der Erbe der göttlichen Dinge« ( § 133ff.), graphisch umgesetzt:

Seit Petrus Hispanus († 1277) ist für diese Denkform der Terminus arbor porphyriana gebräuchlich. Hier eine historische Visualisierung:

Von oben (genus generalissimum) nach unten (individua, supposita, singularia; das sind z.B. Socrates oder Plato) zu lesen: Jede Verzweigung stellt eine spezifische Differenz dar, z.B. bei den Lebewesen (vivens) zwischen empfindenden (sensibile) und empfindungslosen (das sind die Pflanzen). Die rechts erscheinenden Begriffe (im Beispiel: insensibile) werden nicht weiter unterteilt; hier brechen gleichsam die Äste ab. Die links erscheinenden Begriffe (im Beispiel: sensibile) führen eine Etage weiter (nach unten), das heisst zur tieferrangigen Gattung (genus subalternum); dazu wird im Holzschnitt der Inkunabel der abgehende Ast seltsamerweise wieder zum Stamm zurückgebogen (im Beispiel: sensibile führt zu animal). Hier wird im gleichen Sinne weiter unterteilt (animal rationale vs. irrationale). Nur zuunterst gehen – systemwidrig – zwei Zweige direkt vom Stamm ab (von animal: asinus und leo). Auch die Zeichnung der Wurzeln im Bild unten ist genaugenommen falsch. In platonischen Systemen ist die Wurzel des Seins oben.

Holzschnitt aus: Boëthius, Opera varia. Pars I. Venedig 1497.

Literaturhinweise:

H. PETERS, Artikel ›Dihaerese‹ in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Bd. 2, Darmstadt 1994, 748–753.

Artikel »Arbor porphyriana« und »Begriffspyramide« in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. Jürgen Mittelstraß, Mannheim: Bibliographisches Institut, Band I (1980).

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• Objekt: Wissenschaftliche Disziplinen

Intellektuelle waren offenbar immer schon bemüht darzustellen, dass das von ihnen verwaltete Wissen nicht ein loser Haufe ist, sondern einen ordnungsgemäßen Zusammenhang hat. Eine Möglichkeit, dies auszudrücken, ist die Verwendung eines Baumgraphen.

Nach Alcuin (735–804) lässt sich die Philosophie so gliedern:

St. Gallen Stiftsbibliothek Cod. Sang. 276 (Sammelhandschrift mit theologischen Werken Alcuins; zweite Hälfte und Mitte des 9. Jahrhunderts), fol. 270.
> https://www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0276/270/0/Sequence-460

Gregor Reisch (gest. 1525) zeigt auf dem Titelbild seiner Enzyklopädie »Margarita philosophica«, wie die verschiedenen Disziplinen aus dem Schoße der Philosophie hervorwachsen. Es gibt zwei Typen:

• als Blätter erscheinen die sieben freien Künste (Grammatik, Logik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik)
• als Blüten (oder Früchte?) erscheinen die drei klassischen Teile der Philosophie (Philosophia Naturalis – mit dem Astronomen, Philosophia Rationalis – die Figur zeigt auf ihr Hirn, Philosophia Moralis).

Die turba philosophorum (die ›Menge der Philosophen‹, vorne in der Mitte unten) lässt sich von der Philosophie unterweisen, die ihren Zuhörern ein aufgeschlagenes Buch entgegenhält, während sich die Doctores ecclesiastici (hinten rechts) der Offenbarung der Dreieinigkeit (Strahlen durch die Hülle der Wolken) zuwenden. Aufgrund der Kopfbedeckungen lassen sich die vier Figuren den vier Kirchenvätern zuordnen (Tiara > Papst Gregor; Kardinalshut > Hieronymus; zwei Bischofsmitren > Ambrosius und Augustinus).

Reisch hat sich wohl von der Ikonographie der Wurzel Jesse anregen lassen.

Gregor REISCH, »Margarita philosophica«, Titelblatt der Ausgabe Basel: Michael Furter & Johannes Schott 1508.

Mehr dazu im Kapitel zu den Frontispizien

Den Herausgebern der »Encyclopédie« war klar, dass die alphabetische Anordnung die Zusammenhänge zerreisst. Um die Zusammenhänge der Materien zu bewahren, nutzen sie einerseits die Querverweise, anderseits stellen sie in einer großen Tafel die Zusammenhänge der Disziplinen in einer Baumgraphik dar.

Jean LeRond D’ALEMBERT, »Système figuré des Connoissances Humaines« (1751):

Digitalisat [www Wikipedia] mit Umsetzung in Text

Vereinfachende Umzeichnung von PM hier als PDF in neuem Fenster [pop-up]

Die Basisverzweigung in die drei Stämme beruht auf einer psychologischen Grundlage, die von Francis Bacon angeregt ist: Die drei menschlichen Fähigkeiten Mémoire – Raison – Imagination geben das Einteilungsprinzip für die drei Hauptdisziplinen Histoire – Philosophie – Poésie ab.

Für die erste Ausstelllung »Science et Cité« 2001 verfertigte unser Team als Eye Catcher im Zürcher Hauptbahnhof diesen Baum:

Der durfte dann im Institutsgebäude des Deutschen Seminars (Schönberggasse 9) an einer Wand im Treppenhaus weiter gedeihen, bis er im Februar 2024 "aus feuerpolizeilichen Gründen" entfernt wurde. (Wie sind wird doch 23 Jahre lang mega-gefährlich dort vorbei gegangen!)

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• Objekt: Lemmata (bzw. Wissensobjekte) in Enzyklopädien

Enzyklopädien waren – abgesehen von einigen Spezialgebieten – bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein kaum je alphabetisch geordnet, sondern nach Sachen.

Das hat gewisse Vorteile: Zusammengehöriges wird nicht getrennt: Sonne, Mond, Sterne, Planeten, Kometen, Galaxien werden alle am Zweig ›Astronomie‹ angebunden. – Information kann auch gefunden werden, ohne dass man die Terminologie genau kennt, unter der sie abgelegt wurde. So ist auch relativ offenes Suchen möglich. – Durch die Angabe des Orts in der Taxonomie werden Zusatzinformationen über die Sache gegeben (in welche Kategorie sie gehört). – Ein taxonomisches System im Gegensatz zu einem alphabetischen ist sprachunabhängig.

Am umfänglichsten hat in Baumgraphiken umgesetzte Taxonomien Theodor Zwinger (der Ältere, 1533–1588) in seinem »Theatrum Vitae Humanae« verwendet. (Erste Auflage 1565; letzte zu Zwingers Lebzeiten erschienene Ausgabe: 1586/87 mit 4372 Seiten Text in Folio). Jedes Buch (Groß-Kapitel) ist mit einem – als Findehilfe gedachten – Baum-Graphen versehen, an dessen Zweigen die Titel der Kapitel stehen, in denen die Objekte enthalten sind. Auf der Buchseite steht links das Allgemeine, in Leserichtung nach rechts gelangt man zu immer Speziellerem. Die Unterscheidungskriterien bei den Verzweigungen sind der rhetorischen Topik entnommen: ganz / teilweise; gewiss / unsicher; einfach / mit einer Bedingung versehen;

Quelle: Theodor Zwinger, Theatrum Humanae Vitae Theodoris Zvingeri Bas., Tertiatione Nouem Voluminibus locupletatum, interpolatum, renouatum. cum tergemino Elencho, Methodi scilicet, Titulorum & Exemplorum. Basileae: per Evsebium Episcopivm [3.Auflage] 1586/87.

Auch andre Enzyklopäden verfahren so. Hier ein Beispiel aus dem – an sich alphabetisch organisierten – Buch von Mirabelli / Joseph Lange:

Dominicus Nanus Mirabellius, Polyanthea, Opus suauissimis floribus exornatum; addita nunc primum est Latina interpretatio versuum Dantis, & Petrarchae, quos ipsi Italico idiomatae co[n]scripserunt, Argentoratum [= Straßburg] 1517.
> http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00019061/image_1

In diesem Zusammenhang ist zu nennen: Johannes Henrich Alsted (1588–1638), »Encyclopaedia, septem tomis distincta« Herborn 1630, dessen Werk ebenfalls mit taxonomischen Tafeln erschlossen werden will.

 

Literaturhinweise:

Paul MICHEL, Verzweigungen, geschweifte Klammern, Dezimalstellen. Potenz und Grenzen des taxonomischen Ordnungssystems von Platon über Theodor Zwinger bis Melvil Dewey, in: Allgemeinwissen und Gesellschaft, hg. von Paul Michel / Madeleine Herren / Martin Rüesch, Aachen: Shaker Verlag 2007, S. 105–144. hier auf dieser Homepage [pop-up]

Ann M. BLAIR, Too Much to Know. Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven [u.a.]: Yale University Press 2010.

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• Objekt: Bibliotheken und Sammlungen

Um an gesuchte Sammlungsgegenstände oder Bücher heranzukommen, bedient man sich entsprechender Findehilfen. Das können alphabetisch geordnete Zettelkästen sein oder systematische Verzeichnisse. Es sei hier nur ein epochemachendes System erwähnt.

Melvil Dewey (1851–1931) benützte in seinem 1876 erschienenen System »A Classification and Subject Index for Cataloguing and Arranging the Books and Pamphlets of a Library« eine typographisch leicht zu realisierende Form, die Dezimalklassifikation. Das gesamte menschliche Wissen wird in zehn Abteilungen zerlegt; jede Abteilung weiter in höchstens zehn Unterabteilungen usf. Jede Abteilung ist durch eine arabische Ziffer (0 bis 9) repräsentiert; jede rechts angefügte Ziffer bedeutet eine Unterabteilung.

5 Naturwissenschaft und Mathematik

51 Mathematik

52 Astronomie

521 Theoretische Astronomie
522 Praktische Astronomie
523 Beschreibende Astronomie

523.3 Mond

523.34 Oberfläche, Berge, Ebenen hier könnte jeder einzelne Krater beschrieben werden
523.38 Mondfinsternisse

Eine Unterscheidung in der letzten Ziffer entspricht im Baumgraphen einer Verzweigung; kommt eine Ziffer dazu, so gelangt man von einem Ast zu einem feineren Zweig.

Das System kommt bald an seine Grenzen, weil die Sachgebiete eines Buches sich i.d.R. unter verschiedenen Rubriken einreihen lassen: Aceton ist ein chemischer Stoff und gehört deshalb unter 547.284.3 eingereiht, aber auch ein technisches Lösungsmittel, und gehört als solches unter 66.062.822.1.

Dewey-Suche [www DNB] oder hier [www gutenberg.org]

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• Objekt: Ausdifferenzierung in der Entwicklungsphysiologie

»Die Keimplasmatheorie Weismanns am Beispiel der vorderen Extremität erläutert. Die ›Ur-Knochenzelle‹ hat ein Idioplasma, das die Determinanten 1–35 für alle folgenden Knochenzellen enthält. Bei den Zellteilungen werden die Determinanten gesetzmäßig verteilt.« (Heinz Penzlin in: Ilse Jahn (Hg.), Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien, 3. neu bearb. Aufl. 1998; Heidelberg: Spektrum 2000; S. 443.)

August Weismann (1834–1914), Das Keimplasma; eine Theorie der Vererbung, Jena: Gustav Fischer 1892. Graphik auf S. 136
> http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/weismann_keimplasma_1892

Weismann S. 136:

Die Kreise in Figur 3 bedeuten je eine Stammzelle des betreffenden Knochenstückes, von denen jede der Einfachheit halber als durch eine Determinante bestimmt gedacht wird. Also die Urzelle der ganzen Knochenkette würde durch die Determinante 1 bestimmt, enthielte aber daneben noch in ihren Iden* die Determinanten 2—35. Bei der ersten Zelltheilung trennen sich diese in die Stammzelle des Oberarms (Humerus) und des Vorderarms sammt Hand. Erstere enthält die Determinanten 2 und von ihr ist hier die weitere Theilung in Zellen angedeutet mit den Determinanten 2a—2x, Letztere enthält die übrigen Determinanten 3—35, die sich nun bei jeder weiteren Zelltheilung in immer kleinere Gruppen spalten, bis zuletzt jede Zelle nur noch je eine Determinante enthält.

*) Als Ide bezeichnet W. eine Determinante (S. 84).

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• Objekt: Wasserverteilung

Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, im Verein mit Fachgenossen hrsg. von Otto Lueger, 2., vollst. neu bearb. Auflage, Stuttgart/Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1904ff. – Band 7, s.v. Rohrnetz
> http://www.zeno.org/Lueger-1904/A/Rohrnetz

Bei Q hat man sich die Quelle (oder das Reservoir) zu denken, von dort wird das Wasser durch Rohre von verschiedenem Durchmesser verteilt zu den mit Zahlen numerierten Endverbrauchern. Die ›Verästelungen‹ repräsentieren die Struktur der Leitungen. Die Strichdicke repräsentiert die Wassermenge, mithin den Rohrdurchmesser

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• Objekt: Entscheidungsprozesse

Wenn eine Flow Chart Entscheidungen visualisieren soll, wird sie automatisch zu einem Baum. Hier ein Ausschnitt aus dem Leben eines Studenten (Single) am Sonntagnachmittag:

(Graphik von P.M.)

Zu bedenken ist, dass sich bei Flussdiagrammen auch Schlaufen (loops) ergeben können: ›Wenn X nicht, dann zurück auf Feld B‹. Dann sieht die Struktur nicht mehr aus wie ein natürlicher Baum.

Die schweizerische Gesamtenergiekonzeption. Aus: Wirtschaftsbulletin 23 der Zürcher Kantonalbank, März 1979, S. 60.

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• Objekt: Organisation, Hierarchie

Organigramme, die eine Hierarchie visualisieren, gibt es unendlich viele. Sie lassen sich mit modernen Office-Programmen leicht erzeugen. Weil wir bei Hierarchien die Befehlsgewalt von oben nach unten imaginieren (vgl. die metaphorischen Ausdrücke ›der Untergebene‹, ›das Oberhaupt‹), haben diese Baumstrukturen die Wurzel oben.

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• Objekt: Tugenden und Laster

Traditionellerweise werden sieben Tugenden und sieben Todsünden genannt:

Überheblichkeit/Stolz/Hoffart (superbia)
Habgier (avaritia)
Unzucht/Wollust (luxuria)
Zorn (ira)
Völlerei / Fresslust (gula/gastrimargia)
Neid / Missgunst (invidia)
Trägheit / Überdruss (acedia)

Eine bloße Liste scheint aber moraltheologischen Bestrebungen nicht zu genügen. Der psychologisch feinsinnige Kirchenvater Johannes Cassianus († 430/35) lehrt, dass die einzelnen Sünden miteinander verkettet sind, so dass das Übermaß der einen das Entstehen der folgenden bewirkt:

Aus der Üppigkeit der Völlerei entsteht notwendig Unzucht, aus der Unzucht Habsucht, aus der Habsucht Zorn, aus diesem die Traurigkeit und aus ihr die Verdrossenheit; deshalb muß man gegen diese in ähnlicher Weise und gleichem Verhalten kämpfen und den Widerstreit gegen die nachfolgenden immer von den vorausgehenden beginnen. Denn viel leichter verdorrt die schadenbringende Breite und Höhe eines Baumes, wenn zuvor die Wurzeln, auf die er sich stützt, entweder freigelegt oder abgeschnitten sind.

Cassian, Vierundzwanzig Unterredungen mit den Vätern (Collationes patrum),übers. von Antonius Abt, (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 59), Kempten 1879. 4. Unterredung, Kap. 10. Online-Ausgabe der BKV [www <Zugriff Mai 2010>]

Die Vorstellung eines Baums ist entwickelt aus der Metapher Denn die Gier ist eine Wurzel alles Bösen (1 Timoth 6,10) und Die Gottesfurcht ist die Wurzel der Weisheit (Ecclesiasticus 1,25) unter Einbezug des Gleichnisses von den guten und schlechten Früchten (Mt 7,15–20).

Tugend- und Lasterbäume gibt es in mittelalterlichen Handschriften oft. Ein Hugo von Sankt Viktor († 1141) oder Konrad von Hirsau zuzuschreibender Traktat »De fructibus carnis et spiritus« aus den Jahren um 1130 (PL 176, 997–1010) entwickelt die Vorstellung weiter:

Duas itaque arbusculas fructu et ascensu dissimiles, et rudi, et novello cuilibet converso, adjunctis vitiorum sive virtutum paucis diffinitiunculis proponimus, ex quarum radice fructuum proventus pateat, et quae arbor ex duabus eligenda sit allectus fructu discernat. Et quidem superbia fructus carnis radix est, fructus spiritus humilitas. Quae diversitas inspecta radicum, fructum earum moderabiliter quaerentis appetitum ostendit.

Aus den Blüten der einzelnen Sünden wachsen hier noch kleinere Blättchen, zum Beispiel bei der Ruhmsucht (vana gloria): Geschwätzigkeit; Rechthaberei; Prunken; Anmaßung; Vorurteil; Umgehorsam; Heuchelei.

Conrad von Hirsau, »Speculum Virginum«, Walters Art Museum Ms. W.72
> https://art.thewalters.org/detail/88768/tree-of-vices/

Ein Pendant: British Library, Arundel 44
Digitalisat hier [www British Library <Mai 2010>]

Lambert von St.-Omer, »Liber floridus« (um 1120); in der Universitätsbibliothek Ghent, Handschrift MS Gandensis 22, fol. 231v / 232 r
> https://www.liberfloridus.be/index_eng.html
> https://books.google.ch/books?id=OQ1-igA9LI4C&hl=de&source=gbs_navlinks_s

Weitere Beispiele zum Anklicken:

Aarau, Aargauer Kantonsbibliothek, MsWettF 11 [www <Mai 2010>]

Matt Aleksinas [www Yale University <Mai 2010>]

Mettener Biblia Pauperum Clm 8201 [www BSB <Mai 2010>]

Raimundus Lullus (1232–1316) stellt einen doppelten Baum der Tugenden (linker Stamm) und Laster (rechter Stamm) dar. Die Früchte der Tugenden sind die Gloria, diejenigen der Laster: Poena (die Höllenstrafen). Er setzt die Bildlichkeit fort: Wurzeln wie Stultitia (Dummheit) nähren den Lasterstamm; Sapientia den Tugendstamm.

Arbor scientie venerabilis et celitus illuminati patris Raymundi Lulii Maioricensis, Lyon 1515.

Anmerkung: Lulls »Arbor scientiae« (1295/96) enthält zwar auch strukturierende Bäume, diese sind aber nicht taxonomisch; vgl. auf dieser Site hier [pop-up]. (Zurück mit der Back-Funktion des Browsers)

Eine säkulare Variante ist der Baum der »Ligue Nationale contre l’Alcoolisme« (Zeichnung wahrscheinlich von Jacques Souirau, 1886–1957), der die Folgen des Alkohol-Exzesses visualisiert (mehrfach im Internet zu finden):

Literaturhinweise:

Eleanor Simmons GREENHILL , Die geistigen Voraussetzungen der Bilderreihe des Speculum Virginum. Versuch einer Deutung, Münster, Westf.: Aschendorff 1962 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 39,2).

Eckart Conrad LUTZ, Spiritualis Fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein »Ring«, Sigmaringen 1990; S. 252ff. und Abb. 16–23.

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• Objekt: Einschachtelung (Merologie)

Der logische Konnektor ›a und b sind enthalten in K‹ lässt sich – vor allem wenn damit größere Strukturen dargestellt werden sollen – als Baumgraph darstellen. Vgl. die Artikel Merologie [www Stanford Encyclopedia of Philosophy] oder Meronymie [www deutsche Wikipedia] <11.10.12>. Die intuitiv anschaulichere Visualisierung wäre hier eine Darstellung mittels eines Venndiagramms.

Bild aus: Carl Gustav Carus Grundzüge der vergleichenden Anatomie und Physiologie, Band 1, 1828, Seite 28 (Google Books)

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• Objekt: Karriere (Bäume zum Hochklettern)

Bäume dienen auch als Leitern; man kann mit ihrer Hilfe hochklettern. So kann man auch das Wissen um die ›Stufen‹ des Aufstiegs als Baum visualisieren und damit den Rezipienten einprägen. Bei diesen Bäumen geht es also nicht um das Prinzip der Verzweigungen.

Hier handelt es sich um eine andere Art von Wissen als bei den Wissensobjekte strukturierenden Bäumen: um handlungspraktisches Wissen. Die Äste veranschaulichen dem Betrachter, wo er steht und wohin er noch gelangen soll.

Während die Taxonomien visualisierenden Bäume sich von selbst aus der logischen Struktur ergeben, wenn man diese mit Strichen (oder Pfeilen) und Knoten aufzeichnet, beruhen die Aufstiegs-Bäume auf einer Metapher.

Es gibt eine Reihe von Traktaten und Predigten, die sich dieser Aufstiegs-Symbolik bedienen: zum Beispiel die »Arbor Amoris«-Texte:

Olmütz, Univ. Bibl. M I 305 fol. 120r (aus Kamber 1964 gegenüber S. 60).

Das Baumschema zeigt folgendes:

Zuerst muss der Boden für die Anpflanzung bearbeitet werden, das heisst das Herz von schlechten Gedanken gereinigt.

Die Wurzel ist die Furcht Timor S[er]uilis (vgl. Ecclesiasticus 1,25: radix sapientiae est timor Domini ). Die Seitenwurzeln sind die Elemente des Beichtsakraments: contritio – confessio – satisfactio (Reue – Bekenntnis – Genugtuung) mit den daraus folgenden guten Taten.

Der Stamm mit den sieben Abzweigungen stellt den mystischen Aufstieg dar. Es werden verschiedene Intensitätsgrade der Liebe genannt, jeder Grad hat zwei Früchte:

die ungestüme Liebe; die Zweige führen zu Freude und (Liebes-)Seufzer;

die beharrlich ausdauernde Liebe; die Zweige führen zu Selbstbeherrschung und Ausdauer;

die leidenschaftlich-belebende Liebe; die Zweige führen zu glühender Leidenschaft und Tränen;

die durchdringende Liebe; die Zweige führen zu Betrachtung und Verachtung seiner selbst;

die glühende Liebe ...;

die über-glühende Liebe ...;

An der Spitze des Baumes steht das Unerreichbare, Inaccessibile: mentis alienacio und racionis excecacio [Lesung von Kamber] ≈ Das mystische Entwerden des Geistes und Ausblenden des Verstandes.

Johann Geiler von Kaysersberg (1445–1510) hält eine Predigt anlässlich der Szene, wo Zachäus auf den Baum steigt, um Jesus zu sehen.

Basistext ist Luk 19,1–10: Und er [Jesus] ging hinein und zog durch Jericho. Und siehe, da war ein Mann, mit Namen Zachäus, und selbiger war ein Oberzöllner, und er war reich. Und er suchte Jesum zu sehen, wer er wäre; und er vermochte es nicht vor der Volksmenge, denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, auf daß er ihn sähe; denn er sollte daselbst durchkommen.

Johannes Geiler von Kaysersberg, Predigen teütsch und vil guotter leeren, Augsburg: Otmar 1508. Digitalisat der Ausgabe 1510 [www BSB <Mai 2010>]

Die Handlungsweise des Zachäus wird moralisch fruchtbar gemacht. Die sieben Äste des Baums sind numeriert. Text zum Holzschnitt:

¶ Die wurtzel des baumes ist Der glaub. Der stam/ die hoffnung. Der told/ die lieb. Die öst seind tugenden. […] 

¶ Der erst ast/ haißt Zancklich vf steign. Zelosus ascendendi conatus.

¶ Der ander ast haißt/ Ander menschen nit hassen. Alios non odire.

¶ Der drit ast/ Costlich ding nit begeren. Curiosa non affectare

¶ Der vierd/ Haltten sich/ nit der vrtail der menschen. Hominum iudicijs non moueri.

¶ Der fünft/ Enthaltung sich vor ausschwaiffung. Euagationes restringere

¶ Der sechst/ Uppigkait fliehen. Uanitates fugere.

¶ Der sybent/ Sich selbs straffen. Seipsum corripere.

Literaturhinweise:

Urs KAMBER, Arbor amoris. Der Minnebaum. Ein Pseudo-Bonaventura-Traktat, hrsg. nach lat. und dt. Hs. des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin: Schmidt 1964 (Philologische Studien und Quellen 20).

Wolfgang FLEISCHER, Untersuchungen zur Palmbaumallegorie im Mittelalter, München: Fink 1976 (Münchner germanistische Beiträge 20).

Moritz WEDELL, Zachäus auf dem Palmbaum. Enumerativ-ikonische Schemata zwischen Predigtkunst und Verlegergeschick (Johannes Geiler von Kaysersberg: Predigen Teütsch, 1508, 1510), in: Die Predigt im Mittelalter zwischen Mündlichkeit, Bildlichkeit und Schriftlichkeit / La prédication médiévale entre oralité, visualité et écriture, ed. R. Wetzel, F. Flückiger (Reihe: Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 13), Zürich 2010, S. 261–304.

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• Objekt (Pseudobaum): Spielpläne

Kompetitive Spiele von je zwei Parteien (Fußball, Tennis, Schach u.ä.) werden oft nach der sog. K.-o.-Turnierform organisiert (auch: Single elimination); die Pläne zeigen, welcher Sieger gegen welchen spielt. Hierbei handelt es sich um Graphiken, die zwar äusserlich aussehen wie Bäume, denen indessen weder die Baum-Metapher zugrundeliegt noch die der Verzweigung; im Gegenteil: zwei ›Zweige‹ führen jeweils zusammen. Eine symmetrisch angeordnete Graphik (hier nicht sichtbar) führt nach links zum Sieger dieser Gruppe, so dass die Finalisten einander direkt gegenüber stehen.

Bild: Belgische Tennismeisterschaften 2011

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Die Logik von Verzweigungen in Baumgraphen

Was bedeutet links – rechts? D.h.: Was wird bei der Verzweigung entschieden? D.h.: Aufgrund welchen Charakteristikums wird die Objektmenge aufgeteilt?

Was bedeutet oben – unten? D.h.: Wohin gelangt man, wenn man einer Verzweigung (vom Stamm zu einem Ast zu einem Zweig zu einem Blatt oder einer Frucht) folgt?

Je nach Gebiet bedeuten diese Kriterien etwas anderes.

  oben / unten links / rechts
genealogischer Stammbaum Vorfahr / Nachkomme Geschwister
Entscheidungsbaum vor / nach der Entscheidung Kriterium a / Kriterium b erfüllt?
Organigramm Befehlende / Gehorchende gleich Mächtige in verschiedenen Bereichen
Taxonomie, z.B. in der Botanik genus proximum differentia specifica
Merologie (Einschachtelung) Menge K / Teilmenge(n) a, b Teilmengen derselben Menge K

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Anforderungen an eine Taxonomie

Taxonomie von griech. taxis ›Ordnung, Rang, Stellung, Einrichtung‹ und nomos ›Regel, Gesetz‹.

(1) Die Unterklassen müssen Teilmengen der jeweiligen Oberklasse sein (genus proximum).

(2) Die Unterklassen derselben Oberklasse müssen disjunkt sein; d.h. sie dürfen kein Element gemeinsam haben (differentia specifica).

(3) Die Klassifikation muss exhaustiv sein (es darf keine Restklassen geben).

Nicht alles lässt sich taxonomisch ordnen. Familienverwandtschaften und Stammbäume im Tierreich sind ein glücklicher Ausnahmefall, weil hier immer nur Verzweigungen vorliegen (schon Pferd und Esel lassen sich nur mit Mühe kreuzen).

Alle, die als Jugendliche einmal eine Briefmarkensammlung anlegen wollten, kennen das Problem.

Ich habe die Kategorien: berühmte Personen – Vögel – Länder. Beginne ich nun beim Ordnen mit einer Verzweigung Vögel vs. Personen, so sind in beiden Kategorien: Marken aus der Bundesrepublik und der Schweiz. Beginne ich mit einer ersten Verzweigung zwischen den Ländern, so sind in beiden Kategorien: Vögel und Personen. Wie ich es auch anlege, ist es falsch.

Abhilfe schafft hier nur eine Matrix-Darstellung.

Die vieldiskutierten Paragraphen 66/67 von Ludwig WITTGENSTEINs (1889–1951) »Philosophischen Untersuchungen« über die Familienähnlichkeiten lässt sich als Aufweis der Untauglichkeit von taxonomischen Klassifikation bei gewissen Gegenstandsbereichen lesen.

Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist diesen gemeinsam? […] Schau die Brettspiele an mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie alle ‘unterhaltend’? […] Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. […] Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. […] Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen, Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen. […] 67. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‘Familienähnlichkeiten’.

Die Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Spielen besteht also nicht in Eigenschaften, die allen Spielen gemeinsam wären; anderseits bilden die Spiele aber auch kein bloßes Konglomerat von willkürlich so benannten Tätigkeiten. Graphisch wird das gerne so dargestellt:

  Merkmale
Spiel a A B C D        
Spiel b   B C D E      
Spiel c     C   E F    
Spiel d         E F G  
Spiel e A   C         H

Der Objektbereich der Spiele (und die Spiele sind nur ein Modellfall) lässt sich nicht mittels der Methode von ›genus proximum‹ und ›differentia specifica‹ gliedern; damit wird für gewisse Bereiche die Organisation des Wissens mittels Dihairesis-Bäumen obsolet.

Vgl. den Artikel ›Familienähnlichkeit‹ von Hans-Johann GLOCK, Wittgenstein-Lexikon, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 2001, S. 107ff.

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Literaturhinweise

(soweit nicht oben am einschlägigen Ort zitiert)

Jörg Jochen BERNS, Baumsprache und Sprachbaum. Baumikonographie als topologischer Komplex zwischen 13. und 17. Jahrhundert. In: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Kilian Heck und Bernhard Jahn. Tübingen: Max Niemeyer, 2000 (Studien u. Texte z. Sozialgesch. d. Literatur, Bd. 80). S. 155–176 u. 230–246.

Steffen SIEGEL, Wissen, das auf Bäumen wächst. Das Baumdiagramm als epistemologisches Dingsymbol im 16. Jahrhundert. In: Frühneuzeit-Info 15 (2004), S. 42–55.

Paul MICHEL, Verzweigungen, geschweifte Klammern, Dezimalstellen. Potenz und Grenzen des taxonomischen Ordnungssystems von Platon über Theodor Zwinger bis Melvil Dewey, in: Allgemeinwissen und Gesellschaft, hg. von Paul Michel / Madeleine Herren / Martin Rüesch, Aachen: Shaker Verlag 2007, S. 105–144. hier auf dieser Homepage [pop-up]

The tree. Symbol, allegory, and mnemonic device in medieval art and thought, ed. by Pippa Salonius and Andrea Worm, Turnhout: Brepols 2014 (International medieval research; vol. 20).

Liselotte STAUCH / Walter FÖHL, Artikel »Baum«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. II (1938), Sp. 63–90; > http://www.rdklabor.de/w/?oldid=89992

Marcus CASTELBERG, Wissen und Weisheit: Untersuchungen zur spätmittelalterlichen ›Süddeutschen Tafelsammlung‹ (Scrinium Friburgense Band 35) de Gruyter 2013 – Tugend und Lasterbaum S. 129–173 und Abbildungen.

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Epilog

»Zu keiner Zeit hat der Baum des Wissens zahlreichere und vollere Zweige getrieben, als jetzt. Vieles, was sonst als unentwickelte Knospe da war, hat sich mächtig entfaltet, hat Stamm und Äste erhalten und sich mit Blüthen, Blättern und Früchten geschmückt, von denen bereits Samen in neuen Pflanzen aufgeht. Alle einzelnen Wissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten, an Umfang, wie an innerer Reichhaltigkeit, so unglaublich gewonnen, daß auch der Mann vom Fach, wenn er, wie billig, seine Hauptsorge auf lebendiges Durchdringen und Begreifen des Ganzen richtet, selbst mit dem stärksten Gedächtnisse nicht im Stande ist, jede wichtige Einzelnheit zu behalten und sich begierig nach einem Hülfsmittel umsieht, welches ihm auf jeden Wink die fehlenden Notizen darreiche.« (J. Meyer, Vorwort zu: Das große Conversationslexikon für gebildete Stände, 1840, S.30f.)

Die Präsentation beruht auf einem Vortrag von Paul Michel im Kulturraum St. Gallen vom 23.9.2009; ins Netz gestellt im Mai 2012. Diverse Ergänzungen und Korrekturen Oktober 2012 bis Mai 2020.

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