Anamorphosen / Distortionen

     
 

Einleitung

Als Distortion / Anamorphose bezeichnen wir die (T)ransformationstechnik, um Bilder zu erzeugen, die der normalerweise erwarteten natürlichen Form widersprechen, sie als verzerrt wiedergeben.

Eine Technik besteht darin, den Maßstab bei der mimetischen Darstellung von (O)bjekten in der einen Dimension anders zu handhaben als in der (den) anderen. Die Verzerrung kann den Raum betreffen oder die Zeit (Zeitraffer oder Zeitlupe, im Printmedium nicht möglich).

Distortionen, d.h gegen die normalerweise erwartete natürliche Form erscheinende Gebilde, können auch verwendet werden, um in Bildform umgesetzte (O) statistische Daten eindrücklich zu gestalten.

Solche maßstäbliche Verzerrungen sind zum Teil wegen der Eigenschaften der Objekte unentbehrlich, zum Teil dienen (F) sie der Profilierung des Darzustellenden.

Zu den Wörtern: Distortion von distortus, Partizip der Vergangenheit von distorquēre ›verdrehen, verzerren‹ — griech. anamórphōsis ›die Umformung‹, von morphḗ ›die Gestalt, Form‹.

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›Überhöhung‹

••• Weil die Meerestiefen um ca. 1000 mal kleiner sind als das Meer breit ist, kann nur mittels Überhöhung ein Eindruck vom Profil des Meeresbodens visualisiert werden. Die Breite des Meers wird im Verhältnis zur Tiefe stark geschrumpft.

Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, 15. Auflage, Leipzig 1928–1935, Band 18, Karte 118a: Stiller Ozean: Tiefenprofile (Ausschnitt). Unten an der Karte ist angegeben: Alle Profile in 926facher Überhöhung.

••• Die wirkliche Erdgestalt ist infolge der Beschaffenheit der Erde unregelmäßig. (Gemeint sind nicht die Gebirge; auch der Meeresspiegel ist nicht überall gleich hoch, was durch die geologische Beschaffenheit verursacht ist.) Die größte Mulde … befindet sich in der Gegend des Indischen Ozeans (ca. 120 m tiefer als die mittlere Geoidfläche), im Nordatlantik befindet sich ein 65 m hoher Buckel. [Anm.] — Johann Benedict Listing prägte dafür den Begriff »Geoid«. (Über unsere jetzige Kenntniss der Gestalt und Größe der Erde, Göttingen 1872.)

[Anm.] Zitat aus > http://www.nautisches-lexikon.de/b_navi/geodaesie/x_geoid.html {Dez.2017}

Für eine Visualisierung wird der Radius der Erde an jeder Stelle der Oberfläche extrem verändert.

Im »Schweizer Weltatlas« kann man online verschiedene Ansichten und Überhöhungs-Grade einstellen. {Screenshot Januar 2018; mit freundlicher Bewilligung des Instituts für Kartografie und Geoinformation der ETH Zürich}

Vgl. auch die sog. »Potsdamer Kartoffel« (2017) mit einer 15’000-fach überhöhten Darstellung der Erdoberfläche. Quelle > https://de.wikipedia.org/wiki/Geoidbestimmung (Solche Darstellungen findet man im Web häufig unter dem Stichwort ›Geoid‹.)

••• Ein analoger Fall liegt vor, wenn die kaum wahrnehmbare, aber den ästhetischen Eindruck prägende leichte Wölbung der Gebäudekante (sog. Kurvatur) eines antiken Tempels übertrieben gezeichnet wird. (Die Abweichung von der – gestrichelt gezeichneten – Geraden beträgt in Wirklichkeit nur 10 cm; der Parthenon-Tempel z.B. misst 30 m in der Länge.)

Nach: Jim J. Coulton, Ancient Greek Architects at Work. Problems of Structure and Design, Cornell University Press 1977.

••• Es ist unmöglich, sowohl die relativen Größen von Sonne und Planeten als auch die Abstände der Planetenbahnen um die Sonne darzustellen. (Jedem, der einmal einen Planetenweg erwandert hat, leuchtet das ein.)

Man beachte im oberen Bild: Die Größen der Himmelskörper sind nur schematisch angedeutet. (Das heißt, alle sind im Gegensatz zur relativen Größe etwa gleich groß, eben: größenverzerrt.)

Im unteren Bild: Maßstabgerechter Größenvergleich von Sonne und Planeten. (Dann müssen die im Vergleich dazu riesigen Planetenbahnabstände weggelassen werden.)

Meyers Jugendlexikon, hg. Annelies Müller-Hegemann u.a., 7. Auflage, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1977, Artikel Sonnensystem.

Eine ältere Graphik findet sich in: Ludwig Preyssinger, Astronomischer Bilder-Atlas, Schwäb. Hall : Wilhelm Nitzschke, [1851/53] > http://www.e-rara.ch/zut/content/pageview/11583224

••• Die Krümmung der Erdoberfläche kann man kundtun, wenn man z.B über einen größeren See das gegenüberliegende Ufer anschaut und feststellt, dass man am Ufer unten stehend untere Teile von Bauten dort drüben nicht sehen kann, während man sie von einem Turm aus sieht. Um das Experiment augenfällig zu visualisieren, muss man die Erdkugel im Verhältnis zum Beobachter und Beobachteten stark verkleinern:

[Johannes de Sacrobosco † 1256], Sphæra Iani de Sacrobvsto Astronomiæ ac Cosmographiæ […] per Petrum Apianum [1495–1552] acuratißima diligentia denuo recognita ac emendata, Ingolstadt: Apianus 1526. > Digitalisat der k.k. Hofbibliothek: https://books.google.ch/books?id=CL1cAAAAcAAJ&hl=de&source=gbs_navlinks_s

••• Um zu zeigen, wie die Insekten aussehen, die auf bestimmte Gefiederpartien des Wirtvogels (ein Ibis) spezialisiert sind, werden sie an Ort und Stelle vergrößert dargestellt. Im Verhältnis zum Vogel erscheinen sie in falscher Größe.

Ernst Hadorn / Rüdiger Wehner, Allgemeine Zoologie, 1974, Abb. 179 (nach Dubinin)

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Vergleichbarkeit einer Reihe

••• Damit die Längen mehrerer Flüsse vergleichbar werden, streckt man sie in die Länge. Nur noch kleine Krümmungen deuten an, dass es sich um Flüsse handelt:

Otto Spamer’s Illustrirtes Konversations-Lexikon für das Volk. Zugleich ein Orbis pictus für die Jugend, Leipzig: Spamer 1870–1880; 4. Band, Abbildung 2874.

••• In dieser Darstellung werden die Bilder von jugendlichen Menschen maßstäblich verkleinert, damit der Vergleich der Proportionen beim allometrischen Wachstum geleistet werden kann. (Die Hilfslinien sind beim Neugeborenen an markanten Stellen wie Augenbrauen, Kinn, Leistengegend angesetzt und ziehen sich durch.) Die einzelnen Menschen sind an sich nicht verzerrt; das parallele Nebeneinander wirkt wie ein Konglomerat.

Aus: Das Fischer-Lexikon, Teil 15: Anthropologie, verfasst und hg. von Gerhard Heberer / Gottfried Kurth / Ilse Schwidetzky-Roesing, Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1970.

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Umsetzungen statistischer Daten in verzerrt erscheinende Gestalten

••• In der Statistik gibt es seit Erwin Raisz (1893–1968) die Technik, geographische Gebiete entsprechend den statistischen Daten ausgedehnt oder verkleinert darzustellen: sog. anamorphotische Karten. Die Darstellung ist nur verständlich, wenn man die wirklichen Größen der Gebiete auf der Landkarte kennt und sie mit den hier gezeigten vergleichen kann.

Volkseinkommen verschiedener Gebiete, aus: Eduard Imhof, Thematische Kartographie. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1972, Abb. 35 (nach Economist 1945).

••• Der »Sensory Homunculus« funktioniert visualisierungstechnisch gleich: Der Neurochirurg Wilder G. Penfield (1891–1976) setzte gewisse corticale Regionen im Gehirn in Relation zu den sensorischen / motorischen Fähigkeiten der davon innervierten Körperteile. Je größer die an der Wahrnehmung des Körpers bzw. an der Muskelsteuerung beteiligte Hirnregion ist, um so größer wird der jeweilige Körperteil abgebildet. So entsteht das Bild eines verzerrten Körpers. (Hier ein vereinfachtes Bild):

Wilder Penfield / Edwin Boldrey, Somatic Motor and Sensory Representation in the Cerebral Cortex of Man as studied by Electrical Stimulation, in: Brain. A Journal of Neurology, Vol. 60 (1937), pp. 389–443.

Literaturhinweis: Mathieu Arminjon, L’homoncule de Penfield, EspacesTemps.net, Travaux, 20.07.2009 https://www.espacestemps.net/articles/homoncule-penfield/

Eine beliebte Visualisierung von statistischen Daten ist die Umsetzung von Balkendiagrammen in mimetische Figuren. Hier: Die relative Zahl von eine bestimmte Sprache sprechenden Menschen ist umgesetzt in eine in der Nationaltracht bekleidete Figur; die Figurengröße entspricht der Anzahl der so Sprechenden. So erscheint ›der Chinese‹ wie ein überdimensionierter Riese neben ›dem Franzosen‹:

Schatzkästlein 1928, S.78 zum Artikel Die Sprache in Handel und Wandel.

Mehr dazu im Kapitel über Tabellen.

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Jede Landkarte verzerrt zwingend

Gebiete im hohen Norden oder Süden sind auf einer winkelgetreuen Projektion, wenn der Äquator in der Mitte des Bilds liegt, viel zu groß dargestellt – aber eben winkelgetreu. In einer flächengetreuen Projektion stimmen aber die Winkel nicht. Beim zweidimensionalen Modell der in Realität kugelförmigen Erdoberfläche kann man nicht beides haben. — Mehr dazu auf der Seite Geographie.

Obere Bilder: Wenn Grönland in einer flächengetreuen Projektion abgebildet wird, ist es etwas kleiner als die arabische Halbinsel.

Untere Bilder: Dieselben Gebiete in einer winkelgetreuen Karte (Mercator-Projektion )

Eduard Imhof, Gelände und Karte, Erlenbach-Zürich: Rentsch 1950, S.75 (Abb. 153–156).

Eine sehr instruktive Präsentation zum Thema (v.a. die Vorspiegelung falscher Flächengrößen bei der Mercator-Projektion) von Oliver Wietlisbach findet man auf der Plattform watson {Zugriff 8.8.18}.

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Zeitliche Verzerrung

Beispiel für Zeitlupe: Bei der Analyse des Insektenfluges oder bei der Photographie ballistischer Vorgänge sind bei der Film-Aufnahme hohe Bild-Frequenzen erforderlich. Bei diesen hohen Frequenzen verlegt man diese in die Lichtquelle selbst, als welche meist der Lichtfunke einer Hochfrequenzfunkenstrecke dient. Ein solcher Apparat sieht schematisch so aus. Bei E ist die Funkenstrecke, zwischen der Doppellinse C und der Optik O ist das Insekt sichtbar.

Otto Lueger, Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Ergänzungsband zur zweiten Auflage, [Vorwort datiert 1914], Artikel »Kinematographie« S. 417. — Fig. 10 zeigt das Instrumentarium von Bull. Mehr Text auf > http://www.zeno.org/nid/20006160077

Gemeint ist Lucien Bull, der Researches on the flight of the insect durchführte und Aufsätze wie Chronophotography of rapid motions (1910) publizierte. — (Streng genommen gehört dieses Bild in die Rubrik ›mechanische Abbildungstechniken‹.)

Beispiel für Zeitraffer: Libration des Erdmondes. Obwohl uns der Mond immer die gleiche Seite zuwendet, sehen wir im Laufe von 28 Tagen nicht immer exakt dieselbe Seite des Mondes, denn er taumelt leicht (dazu kommen weitere Effekte). Das bemerkt man erst, wenn der Mond im Zeitraffer gefilmt wird, vgl. das Video auf > https://de.wikipedia.org/wiki/Libration

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Zum Schluss zur Erheiterung: Karikaturen …

Karikaturen überzeichnen die Physiognomien technisch gleich wie die Überhöhungen (vgl. ital. caricatura ›Übertreibung‹) , aber mit anderem Zweck.

Napoléon III (1808–1873), Photographie von Nadar (1820–1910); (vergleiche das Portrait von Adolphe Yvon)

Karikatur von Eugène de Mirecourt (1812–1880), aus: Eduard Fuchs, Band 2, Abb. 153.

Literaturhinweis: Eduard Fuchs, Die Karikatur der europäischen Völker. 1: Vom Altertum bis zur Neuzeit – 2: Vom Jahre 1848 bis zur Gegenwart, Berlin: Hofmann 1901/03.

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… und Anamorphosen

Im 16. und 17. Jahrhundert hat man sich mit katoptrischen Experimenten amüsiert. Hier wird gezeigt, wie ein konischer Spiegel und ein elliptisch eingebogener Spiegel ein Angesicht verstellet.

Deliciæ Physico-Mathematicæ. Oder Mathemat: und philosophische Erquickstunden […] Zweyter Theil [verf. von Georg Philipp Harsdörffer] Delitiæ Mathematicæ / Bestehend in Fünffhundert nutzlichen und lustigen Kunstfragen/ nachsinnigen Aufgaben/ und deroselben grundrichtichen Erklärungen/ Auß Athanasio Kirchero, Petro Bettino, Marino Mersennio, Renato des Cartes, Orontio Fineo, Marino Gethaldo, Cornelio Drebbelio, Alexandro Tassoni, Sanctorio Sanctorii, Marco Marci, und vielen andern Mathematicis und Physicis, Nürnberg: Dümler 1651. — Reprint eingeleitet von Jörg Jochen Berns, Frankfurt am Main: Keip 1991 (Texte der frühen Neuzeit 3)

In Band 3, S. 243 steht: Wenn man von dem Nutzen dieser Aufgabe fraget/ so kan man antworten/ daß der Nutze in der Ergötzligkeit deß Auges und Erkundigung der Eigenschafft deß Spiegels bestehe.

Erhard Schön (um 1491 bis 1542) hat Bilder gezeichnet, die nur in extremer Schrägansicht das Abgebildete zeigen; vgl. http://www.zeno.org/nid/20004287525

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Entwurf im August 2017; ergänzt im Januar 2018. PM

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