Bild als Garnitur

     
 

Bilder ohne kognitive Funktion

Martin Liebig (1999, S. 104ff.) unterscheidet informationstragende – informationsstützende – dekorative Funktion von graphischen Elementen. Die drei Kategorien sind zwar nicht sehr trennscharf, aber erhellend.

• Die erstgenannte Leistung besteht darin, einen im Medium der Sprache nur schwer formulierbaren oder gänzlich unanschaulichen (dh. dem Sehsinn nicht zugänglichen) Sachverhalt überhaupt visuell aufzubereiten.

• Als informationsstützend gelten Elemente, die dem Betrachter die Graphik leichter lesbar machen.

• Der dekorativen Funktion ordnen wir Elemente zu, die ohne Informationsverlust weggelassen werden könnten, d.h. solche, die bloß als eye catcher dienen. Christian Doelker (1997) nennt diese Bilder »phatische Bilder, Füllbilder«.

Martin Liebig, Die Infografik, Konstanz: UVK-Medien, 1999 (Reihe praktischer Journalismus 39).

Christian Doelker, Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der Multimedia-Gesellschaft, Stuttgart: Cotta 1997.

Solche Füllbilder sind im Journalismus häufig, sie kommen durchaus auch in wissensvermittelndem Schrifttum vor. Die Graphiker stehen (nicht erst) heute unter einem großen Originalitätsdruck. Das lässt sie Visualisierungen ersinnen, die kognitiv schwach sind oder sogar kontraintuitiv. Wir bringen einige Beispiele von solchen dekorativen Bildern bzw. Bildelementen, die für die zentrale Aussage irrelevant sind. (Es geht hier nicht um falsche oder irreführende Bilder.)

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Beispiele für nicht-informative Bildelemente

••• Das Bild mit der Quellnymphe und dem Pelikan im Vordergrund bringt für die Erklärungen zur Agrartechnik (Daß zweyerley Wisen und Matten seien) keine Information:

Siben Bücher Von dem Feldbau, und vollkomener bestellung eynes ordenlichen Meyerhofs oder Landguts ... Frantzösisch beschrieben, nun aber seines hohen nutzes halben ... von ... Melchiore Sebizio Silesio inn Teutsch gebracht. Straßburg, B. Jobin 1580.
Vgl. > http://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10148142.html

Es handelt sich um eine Übersetzung des der Hausväterliteratur zuzurechnenden Traktats »L’Agriculture et maison rustique« von Charles Estienne (1504–1564) durch Melchior Sebizius [d.Ä.] (1539–1625).

••• Das Relief aus dem Bamberger Dom (13. Jh.) ist für die Charakterisierung des Propheten Jeremias (626 v.u.Z.) nicht erhellend. Es gibt sich aber beinahe so, als wäre es ein Portrait.

Der große Brockhaus, 15. Auflage, Band 9 (1931), s.v.

••• In der 15. Auflage des Brockhaus 1928 bis 1935 gibt es wenige ganzseitige Farbtafeln und ab und zu ein mitten in die Seite eingeklebtes, von den Textspalten umflossenes Farbbild. Zum Teil handelt es sich um Objekte, die wirklich nur farbig sinnvoll wiedergegeben werden können (z.B. Vögel, Schmetterlinge, Gemälde, der Ausschlag bei Röteln, usw.), dann aber auch um impressionistische Bilder (z.B. die Feste Hohensalzburg in Postkartenmanier).

Der große Brockhaus, 15. Auflage, Band 16 (1933): Sahara: Vor Beginn eines Sandsturms (Samum) (S. 313)

Der Artikel Sahara nimmt nicht Bezug auf das Bildchen. Im Artikel Samum (im gleichen Band, S. 394) heisst es: Der Wind führt auch Sand und Staub in oft gewaltigen Mengen mit sich, so daß die Sonne nur noch als kupferrote Scheibe hindurchscheint. […] Die Tiere schützen sich durch Niederlegen mit dem Rücken gegen den Wind und Vergraben der Nase in den Sandboden (im Bild beim Kamel erkennbar).

••• Hier eine Kuchengraphik (vgl. das Kapitel Tabellen), die obendrein mit Bild-Elementen versehen ist. Jeder Betrachter weiß, wie Geld aussieht und wie ein Eintopf aussieht; das bringt keine Erkenntnis. Auch eine mnemotechnische Funktion wird man dem Gewumsel bei Sachspenden kaum zuschreiben können.

Vom Winterhilfswerk aufgebrachten Mittel. Aus: Der Volks-Brockhaus. Deutsches Sach- und Sprachwörterbuch für Schule und Haus. 9., verbesserte Auflage, Leipzig 1941 (© 1938).

••• Warum der Ostertermin jedes Jahr auf ein anderes Datum fällt, wird im Text erklärt; aber der über die Balken einer Pseudo-Balkengraphik hüpfende Osterhase ist bloßes Kolorit:

Pestalozzikalender 1936, S. 241.

••• Geschwindigkeiten lassen sich nicht in einem statischen Bild-Medium visualisieren. Wenn man aber die Strecke (maßstäblich) angibt, die verschiedene Fahrzeuge innerhalb derselben Zeit zurücklegen, lässt sich so ein Diagramm zeichnen. Das ist so in Ordnung.

Kaisers Schatzkästlein 1921, S. 120.

Der Vergleich der Zeit, die ein Lichtstrahl / ein Flugzeug für eine gewisse Strecke braucht, ist interessant. Die Beigabe der Bilder der Erdkugel, der Sonne und des Flugzeugs freilich ist kein Erkenntnisgewinn:

Schülerkalender Mein Freund 1952, Olten: Otto Walter, S. 85.

••• Wenn man bei einem Kreis den Radius um beispielsweise 1 Meter vergrößert, wird der Umfang um 2 pi mal länger, d.h. im Beispiel um etwa 6,28 Meter – und dies bei jedem Kreis, gleich welcher Größe, d.h. also auch erstaunlicherweise beim Erdradius und der Länge des Äquators.

Der Verfasser der Rätselaufgabe im Pestalozzikalender kleidet das so ein:

Rings um die Erde wird am Äquator eine Mauer von 1 m Höhe errichtet. Zwei Globetrotter laufen rund um die Erde, der eine unten, der andere oben auf der Mauer. Zweifellos hat der obere eine weitere Strecke zurückzulegen. Um wieviel ist sein Weg um die Erde länger?

Aus der Fassung der Einkleidung lässt sich ein Bild zeichnen, das aber nichts zur Einsicht beiträgt.

Pestalozzikalender 1953, S. 186 und 190.

••• Lebenserwartung einst und jetzt (1939)

Die eindrucksvollen Darstellungen des Eidgen. Statistischen Amts (oben) wurden in der Ausstellung (Bild unten) auch plastisch als Männchen, kinderbringende Störche und Sensenmänner gezeigt. Letztere gehören logisch nicht auf dieselbe Ebene wie die Menschen.

oben: Carl Brüschweiler. Wir als Viermillionen-Volk. Zur schweizerischen Landesausstellung 1939, Bern 1939, S. 25

unten: Eines Volkes Sein und Schaffen, die Schweizerische Landesausstellung 1939 Zürich, hg. Gottlieb Duttweiler Zürich 1939; Seite 48.

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Ornamentale Darbietungsform ohne Erkenntnisgewinn

Die Anordnung abgebildeter Elemente ist oft von Bedeutung (bei Ranglisten, Abfolgen von Phasen in der Zeit, Baumgraphen; vgl. das Kapitel Bildvielheit). Die Insignien und Bekleidungsgegenstände eines Bischofs werden hier nach rein ästhetischen Prinzipien ausgelegt:

Otto Spamer’s Illustrirtes Konversations-Lexikon für das Volk. Zugleich ein Orbis pictus für die Jugend, Leipzig: Spamer 1870–80; Band 2 (1872), Abb. 1621 > http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10984314-4

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Nicht-kognitive Bildteile irritieren

Die Seilbahn – Thema des Artikels – wird hier in einer Landschaft gezeigt. Die Postkutsche und die Spaziergänger leisten keinerlei Beitrag zum Verständnis der Konstruktion mittels Tragseil und Zugseil.

F[ranz] Reuleaux, Das Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien. Bd. VI: Die mechanische Bearbeitung der Rohstoffe. 8.Auflage, Leipzig / Berlin: Spamer 1887; Fig. 65.

Wie einsichtiger ist dagegen die Visualisierung bei Fausto Vrančić (1551–1617):

Machinae Novae Fausti Verantii,Venedig o.J.
> https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=gri.ark:/13960/t3qv8x48m&view=2up&seq=208

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Kontra-intuitive Bild-Beigabe

Pestalozzikalender 1940, S.179.

Dass die elektrische Lokomotive unter die absteigende gestrichelte Linie der abnehmenden Dampf-Loks zu liegen kommt, ist nicht klug; ebensowenig die Fahrtrichtung der E-Lok nach links (gegen die Leserichtung) in die Vergangenheit.

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Dekorative Bild-Elemente evozieren eine Konnotation

••• Abbildungen von Bakterien werden gern in einem Kreis auf schwarzem Hintergrund gezeigt, als blickte der Betrachter des Bilds durch das Okular eines Mikroskops. Die Illusion dient der Beglaubigung, nicht der Wissensvermittlung. (Hingewiesen wurde auf diese Technik bei: Horst Bredekamp / Angela Fischel / Birgit Schneider / Gabriele Werner: Bildwelten des Wissens, in: Bilder in Prozessen. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 1,1, Berlin: Akademie-Verlag, 2003, S. 9–20).

Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage, Leipzig und Wien: B.I. 1908

••• Der CO2-Fußabdruck. Die Graphik nutzt die Metapher des Fußabdrucks (footprint), der sich in der Oekologie eingebürgert hat und dort ähnlich wie in der Wirtschaftswissenschaft das Wort ›Warenkorb‹ verwendet wird: Er umschreibt ein Set von Einflüssen des Menschen auf die Umwelt, wobei die Parameter von Land zu Land variieren. Insofern als ein Fußabdruck schädigend sein kann, ist die Metapher gelungen; wenn man damit aber das individuelle Gepräge bestimmter Menschengruppen versinnbildlichen will, nicht so besonders (Fingerabdrücke wären da geeigneter).

Nun hat das U.S. Energy Information Administration [www <9.3.2016>] einen Graphiker beauftragt, den CO2-Ausstoß von Ländern bzw. pro Kopf als Fußabdruck zu zeichnen.

Die Vereinigten Staaten erhalten den großen Platz der Ferse, Indien den mittelgroßen Platz der großen Zeh; Nigeria z.B. den der kleinen Zehe. Vorbild sind die Bubble charts (vgl. Carbon atlas cartogram [www <9.3.2016>] ), mit denen sich sehr gescheite Visualisierungen machen lassen, deren Potential hier aber nicht genutzt wird, weil die Bubbles einfach auf dem Fußabdruck gemäß dessen Aussehen hingezeichnet werden. – Frage: Was ist mit dieser Visualisierung gewonnen?

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Literaturhinweis:

Gerhard Henschel, Die wirrsten Grafiken der Welt, Hamburg: Hoffmann und Campe 2003.

Zuerst eingestellt 15.07.2016 — Ergänzungen August 2019 PM

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